»
Ich liebe euch doch alle!«
[Erich Mielke zugeschrieben]Wenn ich bei Anime einen weiten Bogen um etwas mache, dann ist das in aller Regel
Shounen und
Ganbatte. Jetzt begleitet mich
Chihayafuru nun schon ein knappes Jahrzehnt durchs Leben, und trotz all dem Ganbatte, das die (bisherigen?) drei Staffeln prägt, verfolge ich mit wachsender Begeisterung die Schicksalswege von Chihaya, Taichi und Arata.
Das liegt schlicht daran, daß dieser Anime kein Ganbatte im klassischen Sinne ist, sondern den Schwerpunkt mehr auf Charakterentwicklung setzt. Und die Charaktere in
Chihayafuru sind einfach herausragend. Sehr glaubwürdig und nachvollziehbar, auch wenn es manchmal etliche Folgen dauert, bis man das merkt.
Die "Sportart", in der sich all diese Charaktere tummeln, ist
Karuta, genauer:
Uta-Garuta, also gewissermaßen eine Randerscheinung einer Nischensportart. Und daher wie geschaffen für Anime. Wenn man also in solch einer Disziplin
Meister resp.
Queen geworden ist und diese Position vielleicht auch mehrere Jahre hält, kann man davon ausgehen, daß solche Leute ein wenig schrullig sind, bzw. gepflegt einen an der Klatsche haben. Das ist auch hier nicht anders. Und obwohl diese Leute mit allen fiesen Tricks arbeiten, um den Aufstieg unserer Protagonisten rund um Chihaya und ihrem Team zu verhindern, ist dieses
ugly winning gewissen Mitgliedern ihrer eigenen Mannschaft durchaus nicht fremd. Insbesondere
Harada-Sensei, der mit seinen 57 Jahren so allerlei Haare auf den Zähnen hat und der mit nachlassender Kondition und Reaktionsschnelligkeit zu kämpfen hat, die er mit der Erfahrung seiner Jahre kompensieren muss.
Diesmal stehen weniger die Helden der vergangenen Staffeln im Zentrum der Auseinandersetzungen, sondern mehr die Arrivierten, die ein Comeback versuchen, sowie die Titelträger, die ihren Status zu verteidigen haben. Hierin kommt es zwar zu einigen eigenartigen Wendungen, die man so nicht hatte kommen sehen, die aber auch ziemlich animetypisch sind insofern, daß sie nicht der Logik des Spielverlaufs und der Fähigkeiten der Spieler folgen, sondern allein der Entscheidung der Regie, bzw. der Mangaka.
Und das ist ein Punkt, den ich so ziemlich allen Ganbatte-Animes ankreide: die Willkür der Dramaturgie. Denn die gibt sich in der völlig
übertriebenen Darstellung von sportlichen Fertigkeiten zu erkennen, die "von außen" gar nicht mehr eine Einschätzung zulassen, inwiefern das alles noch realistisch ist, oder ob da schon ersatzweise höhere Kräfte walten. Konkret auf
Chihayafuru bezogen:
Die mit einer ganz besonderen Begabung begnadeten Spieler erkennen eine Karte nicht erst an den ersten ein, zwei gelesenen Silben, sondern schon an der Art, wie der Vorleser Luft holt. Das ist zwar eine nette
Trope und soll das überragende Genie des Spielers hervorheben, ist aber für den Zuschauer nicht mehr nachvollziehbar und entzieht sich seinem Verständnis von irdischer Physik. Daher bleibt fast immer unklar, wer genau wann welche Karte getroffen hat, was dann logischerweise immer im nachhinein mit massig viel Text erklärt werden muss.
Solche Vorgehensweisen heben das Sportliche weg vom menschlich Nachvollziehbaren hin ins Numinose, ins Reich des Wirkens göttlicher Mächte. Das kann sich dann auch zur Manie entwickeln, zum grundlegenden Gerüst eines Ganbatte, wie beispielsweise in
Saki, welches aber als Ausgleich eine gehörige Portion Parodie mit ins Spiel bringt.
Ist letztlich aber auch egal. Denn man kann die Serie allein wegen ihrer Charaktere sich anschauen und genießen. Mit dem eben erwähnten
Saki hat nämlich
Chihayafuru gemein, daß nicht nur die Protagonisten und ihre Teams im Fokus der Serie stehen, sondern auch deren Gegner ausreichend Screentime erhalten. Besonders diejenigen, die hier die unsympathischen Fieslinge zu sein scheinen. Und damit wieder zu dem Erich Mielke untergeschobenen Spruch: man muss sie eigentlich alle lieben, egal ob Gegner oder nicht. Sei es die aufrichtige und ernsthafte
Rion als Nachwuchshoffung, sei es die kleine
Kanade, die sich so herzergreifend für die Schönheit altjapanischer Kultur begeistert und die gegen Ende etwas über sich hinauswächst; sei es das
Veilchen Sumire, die ebenso herzergreifend, aber leider unglücklich in Taichi veliebt ist; und selbst die
Holzbirne Hiro "Spargeltarzan"
Kinashi kann auf das Wohlwollen des Zuschauers zählen, selbst wenn er hier ständig als Lachnummer verheizt wird. Ganz zu schweigen natürlich von den alten Haudegen
Kitano und
Harada-sensei, die auch nach Jahrzehnten noch nicht mit der Vergangenheit abgeschlossen haben. Und zu guter Letzt auch
Haruka Inokuma, die zweieinhalbfache Mutter, die es nach der Babypause noch einmal wissen will. Aber ganz oben in der Sympathieskala thront wie immer Chihaya selbst.
Wenn nicht als Queen, dann doch wenigstens in den Herzen der Zuschauer.
Mit ihrer kindlich-naiven Art, ihren Anfällen von Hohlköpfigkeit und ihrer bezaubernden Gestalt weckt sie sicherlich so allerlei Beschützerinstinkte.
Und wenn Taichi so manches Mal bedröppelt hinterherschaut, kann man nur sagen: selber schuld. Wer so eigensinnig agiert und sich anderen gegenüber nicht vernünftig artikuliert, und wenn, sich bestenfalls schwammig äußert, muss sich nicht wundern, wenn manche Dinge nicht so laufen wie erhofft. Daß er den vielleicht dämlichsten Vornamen von allen trägt, entschuldigt da nichts.
Noch kurz zur Musik:
Mit Opening und Ending kenn ich mich nicht aus, und ich hab auch keine Lust, da hinterherzurecherchieren. Die BGM selbst ist die gleiche geblieben, klassische Orchestermusik mit großer Geste, dabei gern mal Anleihen nehmend an berühmten Vorbildern. Wie dieses eine Stück, das mit Tutti-Unisono beginnt [Edit:
Kyouteki Shutsugen] und schwer an die Leonore-Ouvertüre von Beethoven erinnert; oder auch »
Pressure to no Tatakai«, das mit diesem einleitenden Tremolo und den energischen Bassgängen doch sehr an den Beginn von Mahlers 2. Sinfonie angelehnt ist. Stilistisch wird da schon enorm durch die klassisch-romantische Epoche geräubert. Schön zu hören übrigens, wie das fanfarenartige
Main Theme mit der überschlagenden Terz auch ins Opening eingearbeitet ist.
Vieles in Chihayas Welt läuft anders als gedacht, vieles bleibt in der Schwebe , und oft nähert sich der Anime nicht diesem einen Ziel, das man von einem Ganbatte erwarten könnte. Darin liegt der Reiz dieser Serie (zumindest für mich), und darüber hinaus sind es natürlich die interessanten Charaktere, vor allem die Chemie zwischen ihnen, die einen an den Bildschirm fesseln. Das Menschliche der Charakterentwicklung und die Magie der Bilder gehen eine wunderbare Einheit ein – was macht es da schon, daß ständig Marihuanablätter durch die Gegend segeln …
Beitrag wurde zuletzt am 20.08.2021 19:51 geändert.
Kommentare