Scryed (2001)

Kann sich noch wer an den Shounen-Klassiker »Scryred« erinnern? Nicht? Mein Fehler – dieser Manga ist nämlich kein Klassiker. Schade eigentlich, denn hier geht sowas von die Post, und das auf eine herrlich verquere Weise. Schnallt euch an, denn die Reise auf die Insel Lost Ground degradiert jede Achterbahnfahrt zu einem Wippen mit dem Schaukelstuhl!

Der Manga nimmt sprichwörtlich keine Gefangenen und wildert in allen Bereichen, um die Iyashikei-Fans einen großen Bogen machen: Action, Gewalt und eine Spur Erotik. Der Manga nimmt aber auch wortwörtlich Gefangene – beispielsweise mit Tatsukawa und Egami, die beide von Hagarumo gezüchtigt werden, und mit Yuki Imai, die sexueller Belästigung seitens dieses verrückten, alten Mannes ausgesetzt ist. Klingt brutal? Ist es nicht wirklich, denn der Manga nimmt sich zu keiner Sekunde ernst. Dazu reicht ein kurzer Blick auf Hagarumo selbst, der wie eine Halskette an einer mit einem üppigen Vorbau ausgestatteten Frau hängt. Insofern könnte sich der Anime so einiges vom Manga abschneiden. Während dieser nämlich keine Miene verzieht, rennt der Manga unentwegt mit einem kecken Grinsen und hie und da mit ein paar Augenzwinkern herum.

Die Handlung ist in ihrem Kern dieselbe wie im Anime, doch die Auswüchse um diesen Kern herum sind in großen Teilen grundverschieden. Man kann es sich so vorstellen, als würde um den einen Kern ein Cox Orange – würzig im Geschmack – wachsen, und um den anderen ein Boskop – saftig, aber auch ein bisschen sauer, was nicht jedem mundet. Auch die Geschichte im Manga spielt auf der Insel Lost Ground, auf der 1% der Bewohner nach einer Katastrophe übernatürliche Fähigkeiten erhalten haben. Diese Fähigkeit, mit der man Materie verändern kann, nennt sich »Alter«. Der Name dieser Fähigkeit wurde aus dem englischen Begriff »to alter« entlehnt. Und auch hier gibt es eine Unterteilung zwischen »Native Alter«, die mit dieser Fähigkeit auf Lost Ground geboren wurden, und Alter-Nutzern, die der Organisation HOLY zugehörig sind und gegen randalierende Native Alter kämpfen. Doch bereits hier tauchen die ersten feinen Abweichungen zum Anime auf. Neben HOLY gibt es noch eine weitere Organisation, die sich Super HOLY nennt. Was der Unterschied zwischen diesen beiden Organisationen ist? Wahrscheinlich sind die Mitglieder von Super HOLY einfach nur super. Mit LAWLESS gibt es eine Widerstandsbewegung unter den Native Alter, die deutlich macht, dass man sich hier für eine übersichtliche und leicht verständliche Aufgliederung in Gut und Böse entschieden hat, die typisch für eher weniger komplexe Shounen-Werke ist.

Und weil ich gerade die Organisationen angesprochen habe, kommen wir auch gleich zu sowohl den Mitgliedern davon als auch zu den restlichen Charakteren, denn diese sind so wunderbar schräg wie der Schiefe Turm von Pisa. Die Haupt- und wichtigsten Nebencharaktere aus dem Anime sind auch hier anzutreffen, beispielsweise Kazuma oder Ryuuhou. Die Antagonisten jedoch wurden für die Manga-Adaption fast vollständig ausgetauscht, wodurch die handelnden Figuren eine andere Motivation besitzen, und das wirkt sich natürlich in weiterer Folge auf die gesamte Handlung aus. Anstelle von Kyouji Mujou, der erst in der zweiten Hälfte des Animes auf den Plan tritt, bleibt hier Martin Sigmar der Main Villain, und anstelle des stoischen Alter Crystal gibt es hier Galan Du, welche in beiden Medien die Aufgabe besitzen, dem Zuseher bzw. dem Leser die Alter-Paralleldimension näherzubringen. Die Manga-only-Charaktere sind teils wild und stürmisch, teils verführerisch und verrucht, teils verrückt und beknackt und größtenteils alles zusammen. Ein gutes Beispiel dafür ist Mary Jane, die sich als die Verkörperung des Sex Appeals von Super HOLY ansieht und mit ihren Alter-Kräften einen Radio manifestiert, um ihre Gegner auf musikalische Art zu vernichten.

Der Manga kann sich sehen lassen – definitiv mehr als der Anime. Farbe und Bewegung bedeuten nicht unbedingt, dass der Manga ins Hintertreffen gerät. Nur eine einzige Mangaseite ist so vollgestopft, dass man seinen Blick nicht allzu schnell auf die nächste Seite wandern lassen möchte, um auch jedes Detail erfassen zu können. Der Manga ist aber kein Hochglanzprodukt. Die Wildheit der Story und der Charaktere lassen sich in jeder vom Mangaka gezeichneten Linie wiederfinden. Vor allem Kazuma macht in seiner letzten Verwandlungsstufe so einiges her und sieht so wild und aufgeplustert aus wie ein Kampf-Pfau.

Und wenn wir gerade bei Kazuma sind: Seine Fähigkeiten werden hier weitaus verständlicher erklärt als im Anime. So ziemlich alles wird hier verständlicher erklärt als im Anime – und das bei all dem Irrsinn. Der Manga macht so einiges besser als der Anime. Dieser ist nämlich nur ein far (s)cry(ed) der aufgemotzten Manga-Adaption.

PS: Was hat es eigentlich mit diesem seltsamen Wort – »Scryed« – zu tun? Das erfährt man in diesem Manga! Das sollte eigentlich selbstverständlich und keine Überraschung sein. Die Produzenten des Animes waren aber wohl anderer Meinung und ließen den Zuseher im Dunkeln. Wieso, weshalb und warum ich glaube, dass der Manga ein Cox Orange und der Anime ein Boskop ist – um den Bogen zum Beginn meiner Rezension zu schlagen –, dem möchte ich meine Anime-Rezension nahelegen.