Nein. So nicht.
Tosende Beifallsstürme durchzittern das Forum von aniSearch und ich schau mir das an und mag da nicht so recht einstimmen. Hier setzt sich das fort, was sich im
Film der 5. Tiefenebene schon angekündigt hat, und mündet in etwas, worin die Autoren dieser Serie wohl ihr Heil sehen: die Transformation eines enigmatischen, eng gesponnenen und fesselnden Fantasy-Stoffes mit seinen eigenen, aber in sich stimmigen Regeln in einen bloßen Actionanime mit epischen Battles und epischem Gemetzel.
Mit der ersten Episode wird eine großartige und weitausgreifende Introduktion gesetzt. Die Anfänge werden gezeigt. Alles fühlt sich an wie bei einer großen Überfahrt in ferne Welten, ins große Ungewisse, wo nur eines gewiss ist: eine Rückkehr wird nicht mehr möglich sein. So könnte man sich die Reise der Wikinger vorstellen, als sie Grönland entdeckt haben nach der Passage tückischer und schier unüberwindlicher Meeresströmungen.
Die Ankunft auf der Insel gestaltet sich recht pittoresk und wunderbar klischeehaft mit all den Eingeborenen, die die Fremdlinge speerbewaffnet empfangen, ganz in der Tradition einschlägiger Indianerfilme. Wer aber schon in der 1. Staffel leichte Bauchschmerzen verspürt hat bei der Vorstellung, daß halbwüchsige Kinder sich auf die Erkundung des Abyss begeben, wird nun mit dem Umstand konfrontiert, daß jetzt
noch kleinere Kinder in das dräuend klaffende Loch geschmissen werden. Als Fremdenführer, weil sich sonst ja keiner auskennt …
Bald sind wir wieder bei Riko & Co. wie sie mit der Tauchgondel abwärts schweben, und wieder beginnt der Anime seinen Zauber zu entfalten. Mit seinem etwas
speziellen Humor, an dem ich immer noch keine pädophilen Tendenzen erkennen mag, wie das bei der gesamten Community auf MAL der Fall ist. Vielleicht ist das ja auch nur Ausdruck dieser neuen Schneeflöckchen-Achtsamkeit, die es gebietet, in allem und jedem etwas Problematisches zu identifizieren.
So kommen sie im Dorf der 6. Ebene an, und mit ihnen kommen die Probleme. Auch wenn das Staunen und die Faszination über diese fremde Welt noch überwiegt, denn die fantastische, atmosphärische Musik ist im Grunde die gleiche geblieben, nimmt einen bei der Hand und lässt einen über die Töne dieses Besondere erfühlen, was »Made in Abyss« von Anfang an ausgemacht hat. Wie mir scheint, generell etwas dicker, sämiger, dem Topic der Goldenen Stadt entsprechend, wenn auch an einer Stelle ein wenig von Brahms (Doppelkonzert) geklaut.
Dann stellt sich recht schnell Ernüchterung ein, denn das fantastische, immersive Staunen ist gebrochen. Es stellt sich die Frage nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten und nach der literarischen Wahrheit generell. Also nach den Regeln, die sich das Werk selbst gibt. Das fängt bei der Schwerkraft an und zieht sich durch so manche Phänomene, die dieser Abschnitt des Abyss zu bieten hat. Denn die Fantastik schießt ins Kraut und scheint sich nicht mehr um die eigenen Regeln zu kümmern. Um Plausibilität auch nicht so besonders. Es kommen Fragen auf wie:
- Wie kommt der Brief die Schichten hoch? Thermik? Helium-Ballon? Durch das Meer der Leichen?
- Warum brauchen die Dorfbewohner eine Herberge? Die wohnen doch da alle und erwarten keine Gäste.
- War das Essen in der Kneipe für umsonst? Und wie hat Riko ihren Hut zurückbekommen?
- Wie kommt es, daß so viele "Wesen" versammelt sind, wenn der Abstieg zur Sechsten dermaßen knifflig ist? Ficken die da alle wie die Karnikel?
- Und angesichts dieser beachtlichen Bevölkerungsquote stellt sich diese Frage schon beim Abstieg der Schiffscrew: ohne nennenswerte Vorkenntnisse über das, was sie im Abyss erwartet, ohne Kartenmaterial und ohne eine Ozen schaffen die es bis ganz nach unten? Mit Kindern, teils jünger als Riko?
- Wie funktioniert diese Fahrstuhlkapsel – mit Magie? Fällt die einfach so aus der Wasserunterfläche raus, ohne dabei hart aufzuschlagen, fast wie an unsichtbaren Fäden gezogen?
Für anhaltende Irritation sorgt auch die Wuselwelt des Dorfes. Haufenweise seltsame bunte Wesen wie Gummibärchen im Pokemon-Stil. Nachdem die erste Kapitalismuskritik im Monopoly-Format überstanden ist
der Wert der Dinge und des Lebens bemisst sich in der Summe des Wertes der einzelnen (Körper)-Teile.
versucht man sich mit der bewährten Devise "
viel hilft viel" durch den Tag zu retten. Unter dem Bemühen, möglichst viel reinzupacken, möglichst sich immer überbietend, gerät der Anime letzten Endes zu einem ganz normalen, actionlastigen Abenteueranime, der eben ein paar sonderbare Randbedingungen aufweist. Das Ziel von Riko und ihrer Truppe scheint völlig aus den Augen verloren. An keiner Stelle ist die Rede von ihrer Mutter noch von Regs Ursprung. In der Begegnung mit
Fapta stellt sich heraus, daß es eine Vergangenheit gegeben haben muss (wie überraschend) und ein Versprechen. An das er sich nicht erinnert, natürlich. Das Problem mit den Erinnerungen war von Anfang an klar und präsent (siehe 1. Staffel), und es wäre kein großer Akt gewesen, das Fapta begreiflich zu machen. Wollte man wohl nicht. Aus Gründen der Dramaturgie.
Abgesehen vom hier etablierten Setting ist die Dramaturgie der zweite große Punkt, der mich auf die Palme gebracht hat. Beispiel: Namen von Dingen oder Personen, gerne im Zusammenhang mit Wahlmöglichkeiten, werden in den Raum geworfen, mit der Ergänzung, "aber das ist wohl nicht möglich". Natürlich ist es das! Genau das ist ja der Sinn solcher Sätze! Aber nicht nur die Fantasy nimmt überhand, sondern generell das Übernatürliche.
Dieses Übernatürliche folgt nicht nur schwer greifbaren und überdies meist im Nachhinein enthüllten Gesetzen, es schleicht sich nun auch eine eigentümliche Esoterik ein, die den Raum der bisherigen Aura beansprucht. Es hilft auch wenig, das Ganze "symbolisch" verstehen zu wollen (das dahinterstehende Konzept ist schon klar), denn zuerst muss die Geschichte
in sich selbst schlüssig und erklärbar sein, bevor symbolische Aspekte, welcher Art auch immer, greifen können. Hier wäre
weniger nicht nur
mehr gewesen, es wäre auch glaubhafter und verständlicher geraten, ohne daß man die Logik jedesmal neu definieren muss.
Man kämpft hier nicht nur mit einem Storytelling im Stil von »
Higurashi«, inszeniert nicht nur
Opfertode
allerorten, samt geschwollener Theaterprosa im Nachgang, man wird auch viel zu oft behelligt von einer Action-Dramaturgie nach Art von »
Inuyasha«. Also plötzliches Auftauchen von Monstern aus dem Nirgendwo, überraschende Bekämpfungsstrategien aus dem gleichen Nirgendwo und ähnliche Twists. Zu dem eben erwähnten "viel hilft viel" darf man dann auch den ganz erstaunlichen
Body count hinzurechnen. Auch bei Monsters. Denn wie auch
Ich&Anime in seinem ersten Spoilerkasten schreibt:
Und wenn jeder stirbt, fühlt es sich oft so an, als würde keiner sterben
So erreicht man, daß sich bald ein indifferentes Desinteresse einstellt, selbst bei blutigen Szenen. Oft bleiben ja solche Szenen als besonders beeindruckend und intensiv im Gedächtnis haften (und im Herzen ebenso), wenn sie mehr verschleiern als preisgeben, mehr andeuten als explizit ins grelle Rampenlicht zerren; aber hier geschieht eher das Gegenteil. So wie die eindrückliche Szene, wo
Vueko in der ersten Folge bei schwerem Seegang zu kotzen anfängt, mir weit nachhaltiger im Kopf bleibt, auch weil es mit eminent
menschlichen Dingen zu tun hat, so bleibt
ihre unglückliche Deformation und schließlicher Tod
weit schmerzlicher hängen als alles andere, was da so theatralisch aufgebauscht wird. Im Übermaß der zur Schau gestellten Misshandlungen samt blutiger Details verkommen solche Szenen zu einem sinnlosen Gore-Fest, vor allem, weil durch die Natur dieser fremden Welt und ihrer Bewohner nie klar ist, ob derjenige das nach 5 Minuten heil überstanden haben wird und wieder alles so ist wie zuvor, oder ob wer ernstlich entstellt, verwundet, tot sein wird. Als Zuschauer wird einem das irgendwann ziemlich egal und man schaut nüchtern und mit gezügeltem Interesse auf die Sache wie ein Pathologe auf sein Objekt.
Die ganze Geschichte dieser Staffel ist um diese Dinge (und zu diesem Zweck) herumkonstruiert, um den Zuschauer mit diesen Mitteln bei Laune zu halten. Wir brauchen einen Kliffhänger? Da geben wir doch gleich noch einen Charaktertwist gratis mit dazu! Der in der nächsten Folge wieder sich in Wohlgefallen auflöst.
Das Thema dieser Serie ist ja schön und nobel (z.B. was ist
Wert und was hat ihn; oder "be careful what you wish for") und zeigt auch, daß dies keine Konstante ist im Leben, aber was hat das mit dem Abyss zu tun und mit der Suche von Riko & Co.? In diesem Versuch, die Sinne zu überfluten und das Action-Gen zu triggern, zeigt der Anime Gestaltungsmerkmale und Qualitäten, die den Anschein erwecken, hier habe ein Fanfiction-Autor 11 Fillerfolgen produziert, um die Lücke zum jetzt aber wirklich letzten Arc mit der siebten Ebene irgendwie zu überbrücken.
"No, this isn't my MiA at all. Can I please have it back?" liest man da auf Anidb, und ich kann kaum anders, als da enttäuscht und mit wundem Herzen zuzustimmen. Man hat das wunderbar Geheimnisvolle und in der Schwebe gehaltene Atmosphärische der ersten Staffel aufgegeben zugunsten eines 08/15-Isekai-Fantasy-Settings, das bei diesem Anime ziemlich aufgeklebt wirkt. Das hat »Made in Abyss« in meinen Augen einfach nicht verdient.
Beitrag wurde zuletzt am 31.05.2023 04:19 geändert.
Kommentare
Die Handlung hat mir dagegen sehr gut gefallen. Es wurde sich sehr nah an der Vorlage orientiert. Einzig Pakkoyans Verhalten gegen Ende der Serie ergibt wenig Sinn, wenn man im Manga nicht aufgepasst hat. Auch musikalisch wieder sehr erfrischend, da im Gegensatz zum Film zwischen den beiden Staffeln deutlich mehr neue Stücke hinzugekommen sind. Vor allem Belafs Wiegenlied ist im Gedächtnis geblieben.
Leider ist der Manga mit Ende der Staffel quasi eingeholt. Beim derzeitigen Tempo der Veröffentlichungen wird es einige Zeit dauern, bis mit einer Fortsetzung der Anime-Adaption zu rechnen ist …