*mit tiefer und dramatischer Stimme spricht*
„Eine Welt, in der die Musikindustrie von Liedern, welche von künstlicher Intelligenz erschaffen werden, dominiert wird. Eine Welt, die so abgestumpft ist, dass die Gefühlsebene der Menschheit nicht mehr erreicht werden kann. Zwei junge Frauen, einzig und alleine mit einer Akustikgitarre und einem Keyboard ausgestattet, nehmen den Kampf gegen diese kalte Welt auf und stellen sich der Herausforderung, den Menschen mit ihrer selbstgeschriebenen Musik Gänsehaut auf den Körper, ein Lächeln auf die Lippen und Tränen in die Augen zu zaubern.“
So oder so ähnlich könnte ich mir einen Trailer vorstellen, wäre dieser Anime ein Hollywood-Blockbuster. Läuft der Anime aber genau so ab, wie man es sich anhand dieser kurzen Beschreibung erahnen lassen kann? Treten
Carole und
Tuesday mit ihren Songs vor der Bevölkerung des Mars auf und wird diese, mit Tränen in den Augen aufgrund der Schönheit der Lieder, bekehrt? So berechenbar ist dieser Anime nun doch nicht…
Jimmy Page – Carole’s Theme oder: Musik als grundlegendes ThemaJeder Connaisseur dieser akustischen Kunst findet an allen Ecken und Enden Bezüge zur Musikgeschichte und dem Musikbusiness. Es wird so weit über den Tellerrand geblickt, dass man schon fast durchs Fenster des gegenüberliegenden Restaurants sehen kann. Pop? Rock? Metal? Rap? Klassik? Folk? Techno? Die Geschichte von Newcomern, die aus dem Nichts kommen und sich an der Spitze etablieren wollen? Die Geschichte eines Superstars, der von eben jener Spitze in den Abgrund fällt? Auftritte auf der Straße? Auftritte bei einer Award-Show? Hier ist für jeden etwas dabei. Was aber einerseits ein Vorteil ist, kann andererseits aber auch schnell ins Gegenteil umschlagen. Wenn ich diesen Anime z.B. mit
Beck vergleiche, zieht er den Kürzeren. Das liegt unter anderem daran, dass man sich dort ganz bescheiden auf das Alltagsleben einer kleinen, neu gegründeten Rockband konzentriert. Als Fan von dieser Musikrichtung fühle ich mich dort pudelwohl. Bei Carole & Tuesday kann es passieren, dass man gewissen Folgen, Musikern oder Liedern nichts abgewinnen kann. So unterhaltsam z.B. die Folgen der Castingshow „Mars‘ Brightest“ auch waren, so deutlich wurde mir dabei bewusst, dass mir Folgen, welche einen Underground-Flair versprühen, doch besser gefallen haben als welche mit einem Glitzer-Flair.
Wer schon einmal Musikwebsites besucht oder in Musikzeitschriften geblättert hat, dem werden vielleicht ein paar Namen ins Auge stechen.
Rolling Stone,
The Guardian,
Pitchfork Media… alle diese weltbekannten Magazine und Internetportale sind auf ein Interview mit Carole und Tuesday scharf. Und wer denkt beim Videodreh aus der vierten Folge nicht an
Thriller von Michael Jackson? Wer sich für
The Beatles interessiert, dem wird eine kurze Anekdote zu
Brian Epstein präsentiert. Andere Reminiszenzen der Musikgeschichte findet man nicht direkt im Anime, sondern leider nur bei den Charakterbeschreibungen auf der Homepage des Anime, wie z.B. die Lieblingskünstler der Protagonisten.
Ein besonderes Schmankerl für Musikfans: In jeder Folge wird zumindest ein neues Lied gespielt.
The Buzzcocks – Real World oder: AuthentizitätDiese beginnt schon bei der Einblendung der Titel der einzelnen Episoden, welche jeweils den Namen eines berühmten Liedes tragen. In der Mitte jeder Folge gibt es kurze Sequenzen, die die erste und zweite Hälfte der Episode voneinander trennen. Dort tauchen originalgetreue Abbildungen der Schallplatten, die namensgebend für jede Folge sind, mit allem Drum und Dran (Interpret, Titel, Written by…) auf. Die Ratefüchse unter euch können ja versuchen, den Interpreten des Liedes herauszufinden, bis die Lösung auf dem Bildschirm präsentiert wird. Fast vorprogrammiert werden ein erleuchtendes „Ahhh, von dem/denen ist das Lied“ oder ein mit den Fingern schnippendes „Hmpf, es lag mir auf der Zunge“ sein. Hier eine kleine Kostprobe:
Der Gesang wird nicht einfach von irgendeinem schwarzen, birnenförmigen Etwas aufgenommen, sondern von einem stilechten Neumann-Mikrofon:
Genauso wenig spielt Tuesday auf irgendeiner 08/15-Gitarre, sondern auf einer bis ins Detail nachgezeichneten Gibson Hummingbird. Die Bilder wirken teilweise so echt, dass ich selbst Probleme hatte, auf den ersten Blick zu erkennen, welches davon aus dem Anime stammt (PS: das obere):
So authentisch manches dargestellt wird, so enttäuscht war ich über die Darbietungen der „Live-Auftritte“. Aufgrund der Integrierung von in der realen Welt existierenden Instrumenten, Geräten, Musikern und Mitarbeitern der Musikbranche finde ich es umso bedauerlicher, dass der Gesang mancher Live-Auftritte so klingt, als hätte jeder an diesem Anime beteiligte Mitarbeiter die Aufnahmen mehrfach durch
Auto-Tune gejagt. Die Lieder von Carole und Tuesday bleiben – wohl auch dank dem folkigen Stil – glücklicherweise davon verschont. Gehen die Lieder aber in Richtung modernem Pop/Dance/Techno, hört sich vieles davon zu gekünstelt an. Ein bisschen mehr Vertrauen darin, dass den Zusehern richtiger Live-Gesang auch gefallen hätte könnte, hätte zudem – passend zum Thema „selbstgemachte Musik vs. von AI gemachte Musik" – ein Zeichen setzen können.
Gioeli – Who I Am oder: CharaktereNicht umsonst ist der Anime nach seinen beiden Protagonisten benannt. Diese tragen dieses Werk wie zwei unnachgiebige Stützpfeiler. Während beide auf ihre ganz eigene Art und Weise sympathisch sind, ist Carole der extrovertierte, coole und schlagfertige Gegenpart zur lieben und etwas schüchternen Tuesday, die – wenn man sie erzürnt – sich aus einer Kurzschlusshandlung heraus aber auch zur Wehr setzen kann.
Nicht dass die anderen Charaktere schlecht wären. Bei manchen hatte ich nur das Gefühl, dass man mehr daraus hätte machen können.
Angela kommt mir ihrer Ausstrahlung, Präsenz, Relevanz und Hintergrundgeschichte noch am ehesten an die alle anderen überstrahlenden Protagonisten heran.
Gus ist ein weiterer Sympathieträger, dessen volles Potential vielleicht nicht zur Gänze genutzt wurde. Seine Lieblingsband ist Motörhead und seine Band wurde dafür kritisiert, diese zu offensichtlich zu kritisieren. Dazu hätte ich liebend gerne einen kleinen Rückblick gesehen, anstatt nur ein Bild von damals, als er mit seinen Sticks vor dem Drumkit saß. Das klingt jetzt vielleicht wie eine negative Kritik, dabei ist es etwas gutes, wenn man Gefallen an einem Charakter gefunden hat und mehr von ihm erfahren will. Seine Beziehung zu
Flora wurde hingegen gut umgesetzt.
Dahlia wirkte mit ihrem ungewöhnlichen Charakterdesign anfangs sehr interessant, konnte in der Geschichte aber erst ganz zum Schluss Akzente setzen.
Tao ist ein emotionsloses Genie, bei dem ich hin- und herschwanke. Seine Emotionslosigkeit führte dazu, dass er an vielen Stellen leider etwas langweilig wirkte. Seine Kollaboration mit Angela war dafür eine der interessantesten Nebengeschichten des Anime. Bei anderen Charakteren wiederum frage ich mich, weshalb sie überhaupt einen Auftritt hatten. Das IT-Genie
Aaron? Mehr kann ich über ihn leider nicht sagen.
Was die Künstler selbst betrifft, schafft es der Anime, Musiker aus allen Genres zu präsentieren, die jedoch nie 1:1-Kopien von realen Künstlern sind. Jeder hat das gewisse Etwas, das ihm von typischen Vertretern seines Genres abhebt. Sogar so sehr, dass ich mich gefragt habe, wie erfolgreich diese Musiker wären, würden sie in der echten Welt existieren. Ein rappender Opernsänger? Warum nicht?
The Cribs – Moving Pictures oder: Zeichenstil und AnimationAnhand der Screenshots kann man bereits erkennen, dass der Anime in visueller Hinsicht keinesfalls generisch wirken möchte. Man legte darauf Wert, die Charaktere so realistisch wie möglich zu zeichnen. Selbst wenn in komödiantischen Szenen Grimassen geschnitten wurden, ging man nicht den Weg des
Super-Deformed-Stils, sondern bewegte sich weiterhin im Rahmen realistischer Gesichtsausdrücke.
Eine Besonderheit hat man sich für
Pyotr – den „Justin Bieber“ dieses Anime – ausgedacht. Für seine Tanzeinlagen wurde das Prinzip der
Rotoskopie angewendet, wodurch seine vielen und schnellen Bewegungen noch flüssiger dargestellt werden konnten. Ein Beispiel dafür kann man sich
hier ansehen.
Während Pyotr bei seiner Performance in der Talentshow „Mars‘ Brightest“ dem Zuseher so einiges bietet, lässt die Animation des Publikums leider zu wünschen übrig. Vom Viertelfinale bis zum Finale wird mehrmals ein und dasselbe Standbild eingeblendet. Das fällt besonders dann auf, wenn die Gesichtsausdrücke des Publikums nicht mehr zur Darbietung der Künstler passen.
Jesu – Why Are We Not Perfect? oder: SchwächenProbleme bereiten mir jedoch ein paar grundlegende Dinge. Die Prämisse und das Setting sind zwar ambitioniert, aber unglaubwürdig. Die Geschichte spielt nur 50 Jahre in der Zukunft. Diese Zeitspanne ist deutlich zu kurz, um glaubwürdig darzustellen, dass sich die Attitüde der Menschheit zu Musik so sehr verändert hat, dass sowohl die Protagonistinnen die Einzigen sind, die ihre Leidenschaft mit eigenhändig geschriebenen Liedern zum Ausdruck bringen wollen, als auch die Konsumenten sich damit zufrieden geben, ausnahmslos von künstlicher Intelligenz kreierte Musik serviert zu bekommen. Es fehlt einfach ein bestimmtes Ereignis, das die Menschheit zu solch einer ambitions- und passionslosen Mentalität gegenüber dieser emotional berührenden Kunst getrieben hat.
Der Anime hätte zudem gleich gut auf der Erde spielen können. Das Mars-Setting hat keinerlei relevante Auswirkungen auf irgendetwas. Nur dass die unbeantwortete Frage in den Raum geworfen wird, wie man es innerhalb von 50 Jahren geschafft hat, diesen Planeten für Menschen nicht nur bewohnbar zu machen, sondern auch Lebensbedingungen herzustellen, die denen auf der Erde in nichts nachstehen.
Das Mars-Setting wurde auch dazu benutzt, um manche Charaktere – z.B. Dahlia und
Desmond – an der sogenannten „Marsianischen Androgynität“ leiden zu lassen, wodurch man wegen des Marsklimas mit der Zeit immer mehr Merkmale des anderen Geschlechts aufweist. Wirkte dies zuerst wie eine vielversprechende Gesellschaftskritik und ein Schrei nach Toleranz, sucht man als Zuseher vergeblich sowohl Konfliktpotential – es gibt nämlich keine Leute, die eine Phobie gegen androgyne Menschen besitzen – als auch nennenswerte Momente, welche Bezug zur Androgynität der Charaktere nehmen.
Diesen Punkt packe ich lieber in einen Spoiler, da er die Story selbst anspricht:
Genauso wenig Konfliktpotential gibt es im „Kampf“ handgemachter Musik vs. von AI gemachter Musik. Dieser existiert nämlich nicht. Der Anime führt einen von Beginn an auf die falsche Fährte. Treten Carole und Tuesday in einer Talkshow auf und werden diese vom Moderator als Musiker beschrieben, die ihre Musik selbst schreiben, gibt es vom Publikum einen erstaunten Blick und ein kurzes „Ahhh“ oder „Ohhh“. Das war es dann aber auch schon. Wer also denkt oder hofft, die beiden schaffen es, die Menschen mit ihren Liedern auf ihre Seite zu bringen und infolgedessen das System der von AI komponierter Musik zusammenbricht, könnte hier enttäuscht werden.
By the way, ein kleines Easter-Egg gibt es für Fans von
Cowboy Bebop. In beiden Animes gibt es „Woolong“ als Währung, was wahrscheinlich daran liegt, dass
Watanabe Shin'ichirō als Direktor an beiden Animes mitgearbeitet hat.
Zum Schluss möchte ich dem Anime noch ein Lob dafür aussprechen, dass er sich keinerlei Klischees, Tropen oder Trends bedient. Ich würde gerne mehrere Produktionen sehen, die den Mut haben, aus diesem Korsett auszubrechen und etwas wirklich Neues erschaffen.
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