RabiatorV.I.P.
#1Wenn ein Film die Goldene Palme in Cannes gewinnt, wird abweisenden Kritikern des Werkes schnell nachgesagt, dass sie dem Regisseur vermutlich nur den Erfolg neiden. Wenn man so denkt, muss ein nicht zu vernachlässigender Teil der japanischen Öffentlichkeit neidisch gewesen sein; heimische, aufgescheucht wirkende Kritikerstimmen waren damals nämlich nicht zu überhören. Freilich war man in den Tagen der Verleihung im Jahr 2018 stolz, dass mit Hirokazu Kore-Edas Film Manbiki Kazoku der insgesamt vierte japanische Film die "Palme" gewonnen hatte; allerdings war man gerade in den konservativen Leitmedien unzufrieden damit, wie die japanische Wirklichkeit beschrieben wurde. Wichtig war für diese Kolumnisten, dass ausgerechnet eine scheinbar ziemlich trostlose Geschichte über die japanische Wirklichkeit gewonnen hatte, was auch als versteckte Kritik der Juroren an den Zuständen in der japanischen Gesellschaft aufgefasst werden konnte. Damit hatten sie denn leider auch nicht ganz unrecht, da politisch motivierte Preisverleihungen für künstlerische Werke heutzutage rund um die Welt keine Seltenheit sind.
Dennoch unterschied sich diese Art heimischer Kritik ein ganzes Stück von den internationalen Rezensionen, die mit überwältigender Mehrheit darauf abstellten, dass dieser Film eben gerade nicht nur Zustände in Japan beschreibt, sondern eine unabhängig von nationaler oder ethnischer Angehörigkeit bestehende Frage an die Menschheit aufgreift. Diese Frage dreht sich darum, was Familienbande (m. E. der gelungenste eingedeutschte Filmtitel der letzten Jahre) eigentlich ausmacht, und wodurch sich eine funktionierende Familie auszeichnet. Die Antwort, wenngleich unaufdringlich und in teilweise unhörbaren Untertönen gegeben, hat die Rezensenten international überzeugt. Gänsehautmomente sind vorprogrammiert; sei es die Oma, die sich am Strand unhörbar bedankt; sei es die Mutter, die sich für ihre Familie opfert oder die beiden letzten Minuten des Films - wir kommen noch darauf zu sprechen.
Kore-Eda gehört zu derjenigen Reihe von japanischen Regisseuren, denen es immer wieder gelingt, dass ihre Darsteller ihre Rollen wie in der Wirklichkeit leben können. Ähnlich wie Kenichi Matsuyama und Mana Ashida in Hiroyuki Tanakas Film Usagi Drop in Abwesenheit direkter Drehbuchvorgaben zu einem innigen, vollkommen natürlich wirkenden Vater-Tochter-Verhältnis fanden, wuchsen die Schauspieler dieses Films zu einer "Familie" zusammen - was sich zum Beispiel beim Interview in Cannes zeigte, als Mayu Matsuoka bei der Frage nach der Rolle der damals schon unheilbar erkrankten Kirin Kiki in heiße Tränen ausbrach...
Anhängern von Sozialromantik sei an dieser Stelle gesagt, dass der Film nicht einfach nur auf das gängige Klischee zurückgreift, dass materieller Reichtum nicht alles sei und die wahre Bestimmung unseres Daseins im menschlichen Miteinander liege. Alle Familienmitglieder sind von ihrer gemeinsamen Armut gezeichnet, und der Umgangston der Familie ist gerade in den ersten Minuten seltsam distanziert, rauh und stellenweise in unnahbarem Ton gehalten, als hätten sie schon mehrfach miteinander abgeschlossen und würden nur noch der materiellen Notwendigkeiten wegen zusammen leben. An anderen Stellen wiederum fühlt man, dass sie genau auf diese Art schon viele Krisen überwunden haben, und dass das Gezeigte, in dieser Form, ihr derzeitiger Status Quo ist.
Auch die einzelnen Mitglieder der Familie sind keine leuchtenden Vorbilder. Der Vater Osamu hat nur gelernt, wie man mit Ladendiebstahl über die Runden kommt. Er ergänzt das durch körperliche Arbeit, der er aber eher ungern nachgeht, zumal in der unpersönlichen Atmosphäre einer Großbaustelle. Die Mutter Nobuyo arbeitet in einer Wäscherei, aber auch sie lässt hier und da wertvolle Stücke mitgehen, die in den Taschen der Wäschebesitzer vergessen worden sind. Die große Tochter Aki verkauft ihren jugendlichen Körper halbstundenweise in einer Peepshow an Stammkunden. Und die Großmutter, auf deren Rente und kleines, angemietetes Häuschen die Familie ebenfalls angewiesen ist, geht in der erweiterten Familie betteln und ist Stammgast in den Pachinko-Hallen. Selbst der Sohn Shota ist davon überzeugt, dass nur diejenigen Kinder in die Schule gehen, die anders nicht lernen können. Er bzw. sein Vater haben damit ironischerweise recht, da die überwältigende Mehrheit der Kinder heutzutage auf das Lernen in der Schule hin konditioniert ist und nicht anders können... Die gesellschaftlich relevante Wahrheit ist: Er ist die Ausnahme, ohne es zu wissen, weil er wie seine gesamte Familie den äußersten, am wenigsten respektierten Randgruppen der japanischen Gesellschaft angehört. Sein Vater hat ihn zu einem routinierten Ladendieb ausgebildet, die beiden sind ein eingespieltes Team, haben das Risiko minimiert, erwischt zu werden und sind stolz darauf.
Daran ändert sich nicht viel, als die kleine Yuri von einer Art Balkon bzw. Flur außerhalb der üblichen japanischen Wohnanlagen eingesammelt wird, weil sie offensichtlich nicht das erste Mal bei Minustemperaturen ausgesperrt wurde. Es wird schnell klar, dass Yuri aus einer dysfunktionalen Familie stammt, obwohl beide Eltern gesellschaftlich anerkannt sind. Der Film verzichtet aber auch hier sowohl auf Sozialromantik als auch auf das besondere Drücken auf den Mitleidsknopf oder auf die Tränendrüse. Die m. E. stärkste Szene in diesem Teil des Films, die Reaktion Nobuyos auf Yuris Geschichte, kommt ohne Pathos und ohne komplizierte Worte aus und verändert dennoch die als Wahrheit empfundene, bewusste Wirklichkeit der Kleinen nachhaltig. Für einen Moment, bevor die umbarmherzige Realität wiederholt zuschlägt, wirkt die Familie, die Yuri wie eine eigene Tochter aufgenommen hat, wie aus einem Guss.
Über das weitere Geschehen sei ein undurchdringlicher Spoilermantel gedeckt. Es soll sich jeder selbst ein Bild darüber machen, auf welcher Seite er sich im letzten Drittel des Films wiederfindet, oder ob er überhaupt eine Seite zu verstehen vermag. Nur auf die letzten beiden Minuten möchte ich (wie angekündigt) noch einmal eingehen. Schon Shotas letzte geflüsterte Worte sind eine eindeutige Antwort auf die Frage, die der Film (sich) stellt. Noch eindrucksvoller empfand ich aber die letzte Minute, die allein Yuri gehört - und wie sie es geschafft haben, der damals sechsjährigen Schaupielerin in den letzten Sekunden des Films vier verschiedene Gesichtsausdrücke so einzuhauchen, dass man sie lesen kann wie ein Buch und dadurch die Frage ein weiteres Mal beantwortet wird. Am Ende steht eine Handvoll letzter Frames, die in mir eine ähnliche Unsicherheit wie Inception hinterließ...
Dennoch unterschied sich diese Art heimischer Kritik ein ganzes Stück von den internationalen Rezensionen, die mit überwältigender Mehrheit darauf abstellten, dass dieser Film eben gerade nicht nur Zustände in Japan beschreibt, sondern eine unabhängig von nationaler oder ethnischer Angehörigkeit bestehende Frage an die Menschheit aufgreift. Diese Frage dreht sich darum, was Familienbande (m. E. der gelungenste eingedeutschte Filmtitel der letzten Jahre) eigentlich ausmacht, und wodurch sich eine funktionierende Familie auszeichnet. Die Antwort, wenngleich unaufdringlich und in teilweise unhörbaren Untertönen gegeben, hat die Rezensenten international überzeugt. Gänsehautmomente sind vorprogrammiert; sei es die Oma, die sich am Strand unhörbar bedankt; sei es die Mutter, die sich für ihre Familie opfert oder die beiden letzten Minuten des Films - wir kommen noch darauf zu sprechen.
Kore-Eda gehört zu derjenigen Reihe von japanischen Regisseuren, denen es immer wieder gelingt, dass ihre Darsteller ihre Rollen wie in der Wirklichkeit leben können. Ähnlich wie Kenichi Matsuyama und Mana Ashida in Hiroyuki Tanakas Film Usagi Drop in Abwesenheit direkter Drehbuchvorgaben zu einem innigen, vollkommen natürlich wirkenden Vater-Tochter-Verhältnis fanden, wuchsen die Schauspieler dieses Films zu einer "Familie" zusammen - was sich zum Beispiel beim Interview in Cannes zeigte, als Mayu Matsuoka bei der Frage nach der Rolle der damals schon unheilbar erkrankten Kirin Kiki in heiße Tränen ausbrach...
Anhängern von Sozialromantik sei an dieser Stelle gesagt, dass der Film nicht einfach nur auf das gängige Klischee zurückgreift, dass materieller Reichtum nicht alles sei und die wahre Bestimmung unseres Daseins im menschlichen Miteinander liege. Alle Familienmitglieder sind von ihrer gemeinsamen Armut gezeichnet, und der Umgangston der Familie ist gerade in den ersten Minuten seltsam distanziert, rauh und stellenweise in unnahbarem Ton gehalten, als hätten sie schon mehrfach miteinander abgeschlossen und würden nur noch der materiellen Notwendigkeiten wegen zusammen leben. An anderen Stellen wiederum fühlt man, dass sie genau auf diese Art schon viele Krisen überwunden haben, und dass das Gezeigte, in dieser Form, ihr derzeitiger Status Quo ist.
Auch die einzelnen Mitglieder der Familie sind keine leuchtenden Vorbilder. Der Vater Osamu hat nur gelernt, wie man mit Ladendiebstahl über die Runden kommt. Er ergänzt das durch körperliche Arbeit, der er aber eher ungern nachgeht, zumal in der unpersönlichen Atmosphäre einer Großbaustelle. Die Mutter Nobuyo arbeitet in einer Wäscherei, aber auch sie lässt hier und da wertvolle Stücke mitgehen, die in den Taschen der Wäschebesitzer vergessen worden sind. Die große Tochter Aki verkauft ihren jugendlichen Körper halbstundenweise in einer Peepshow an Stammkunden. Und die Großmutter, auf deren Rente und kleines, angemietetes Häuschen die Familie ebenfalls angewiesen ist, geht in der erweiterten Familie betteln und ist Stammgast in den Pachinko-Hallen. Selbst der Sohn Shota ist davon überzeugt, dass nur diejenigen Kinder in die Schule gehen, die anders nicht lernen können. Er bzw. sein Vater haben damit ironischerweise recht, da die überwältigende Mehrheit der Kinder heutzutage auf das Lernen in der Schule hin konditioniert ist und nicht anders können... Die gesellschaftlich relevante Wahrheit ist: Er ist die Ausnahme, ohne es zu wissen, weil er wie seine gesamte Familie den äußersten, am wenigsten respektierten Randgruppen der japanischen Gesellschaft angehört. Sein Vater hat ihn zu einem routinierten Ladendieb ausgebildet, die beiden sind ein eingespieltes Team, haben das Risiko minimiert, erwischt zu werden und sind stolz darauf.
Daran ändert sich nicht viel, als die kleine Yuri von einer Art Balkon bzw. Flur außerhalb der üblichen japanischen Wohnanlagen eingesammelt wird, weil sie offensichtlich nicht das erste Mal bei Minustemperaturen ausgesperrt wurde. Es wird schnell klar, dass Yuri aus einer dysfunktionalen Familie stammt, obwohl beide Eltern gesellschaftlich anerkannt sind. Der Film verzichtet aber auch hier sowohl auf Sozialromantik als auch auf das besondere Drücken auf den Mitleidsknopf oder auf die Tränendrüse. Die m. E. stärkste Szene in diesem Teil des Films, die Reaktion Nobuyos auf Yuris Geschichte, kommt ohne Pathos und ohne komplizierte Worte aus und verändert dennoch die als Wahrheit empfundene, bewusste Wirklichkeit der Kleinen nachhaltig. Für einen Moment, bevor die umbarmherzige Realität wiederholt zuschlägt, wirkt die Familie, die Yuri wie eine eigene Tochter aufgenommen hat, wie aus einem Guss.
Über das weitere Geschehen sei ein undurchdringlicher Spoilermantel gedeckt. Es soll sich jeder selbst ein Bild darüber machen, auf welcher Seite er sich im letzten Drittel des Films wiederfindet, oder ob er überhaupt eine Seite zu verstehen vermag. Nur auf die letzten beiden Minuten möchte ich (wie angekündigt) noch einmal eingehen. Schon Shotas letzte geflüsterte Worte sind eine eindeutige Antwort auf die Frage, die der Film (sich) stellt. Noch eindrucksvoller empfand ich aber die letzte Minute, die allein Yuri gehört - und wie sie es geschafft haben, der damals sechsjährigen Schaupielerin in den letzten Sekunden des Films vier verschiedene Gesichtsausdrücke so einzuhauchen, dass man sie lesen kann wie ein Buch und dadurch die Frage ein weiteres Mal beantwortet wird. Am Ende steht eine Handvoll letzter Frames, die in mir eine ähnliche Unsicherheit wie Inception hinterließ...
Beitrag wurde zuletzt am 17.05.2021 13:46 geändert.
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