SabriSonneRedakteur
#1Würde „River’s Edge“ im deutschen Free-TV kommen, dann wäre es der typische 22:30-Uhr-Film für ARTE – denn „River’s Edge“ ist einer der eigenartigsten und gleichzeitig faszinierenden Titel, die ich jemals gesehen habe.
Zur Handlung
Hier muss ich schon beinahe passen, denn „River’s Edge“ hat keine wirkliche Handlung, der er zu folgen scheint. Es passiert zwar etwas, aber man eher das Gefühl, es passiert ohne Intention. Es gibt keine treibende Kraft, keinen Bösewicht, keine wirkliche Gefahr. Die Handlung ist „nur“ das Leben, nicht mehr und nicht weniger.
Lange habe ich somit überlegt, worum es eigentlich geht. Final bin ich nun zu dem Schluss gekommen, dass es nicht um eine Handlung als solche geht, sondern um Themen.
Lange habe ich somit überlegt, worum es eigentlich geht. Final bin ich nun zu dem Schluss gekommen, dass es nicht um eine Handlung als solche geht, sondern um Themen.
Und die Darstellung dieser Themen ist einfach nur grotesk und gleichzeitig auf einem abartigen künstlerischen Niveau. Und hier werden sich sicherlich die Geister scheiden: man mag sowas, oder eben nicht.
Der Film wirkt nämlich wie ein einziges großes Experiment. Wir begleiten mehrere Leben einiger junger Leute, die auf der Suche nach sich selbst sind und Erfahrungen machen. Die eine ist mit ihrem Leben unzufrieden, der andere wird gemobbt, eine Dritte hat Bulimie. Dabei sind nicht nur die Themen absolut roh und unverblümt, auch alle Emotionen sind es. Es geht um das Ausprobieren, um das Finden des eigenen Verhaltens, aber auch um normale menschliche Reaktionen wie Neid, Eifersucht und alltägliche Selbstzweifel. Das Ganze wird in einem so unterzeichneten Realismus portraitiert, dass es tatsächlich grausam und grotesk, aber nachvollziehbar zu gleich wirkt.
Besonders gelungen fand ich jedoch den Einsatz der Romantik und den Umgang mit dem Wort „Liebe“. Obwohl es mehrere Sex-Szenen gibt, kommt zu keinem Zeitpunkt ein wirklich romantisches Gefühl auf. Liebe wird hier eher als Trieb dargestellt, komplett ungeschönt, teilweise brutal. Es ist ein überwältigender Realismus in jeder nur erdenklicher Szene, der es tatsächlich schafft, der Romanze ihre Romantik zu nehmen.
Da der Film in den 90ern spielt, wird bewusst in der Auflösung dieser Zeit gefilmt, auch Filter kommen nicht zum Einsatz. Der Film ist insgesamt sehr grau und verwischt damit selbst seinen Inhalt umso mehr.
Unterstrichen werden sämtliche Themen mit herausragendem Bildmaterial und einer gelungenen Komposition an Szenen und Metaphern. Beinahe grotesk ist die Szenenabfolge, bei der auf eine orale Sexszene sofort die passende Essenszene folgt, die in ihrer ganzen Widerwärtigkeit gefilmt ist. Dadurch fühlt sich nicht nur die Romanze unglaublich leer an, sie verschwimmt beinahe mit dem Ekel, den man verspürt, da die Szenen ohne Rücksicht auf Verluste gefilmt werden.
Dazwischen finden sich immer wieder „Interviews“ mit den tragenden Figuren, sodass das Gefühl der Dokumentation nur noch mehr unterstrichen wird und man sich emotional nur noch losgelöster fühlt. In jedem anderen Titel wäre das der Todesstoß, und wird es auch sicherlich bei einigen sein, wer sich jedoch darauf einlassen kann, der erlebt die Abgründe der menschlichen Seele mit einem Realismus, dass beinahe gruselig ist. Selbst die Kameraführung unterstreicht die Distanz noch einmal zusätzlich.
Dennoch ist man trotz der fehlenden Sympathie, oder gerade auch deswegen, vom Film und seiner Entwicklung fasziniert. „River’s Edge“ spricht Themen an, die sonst keiner anspricht, und das komplett unverblümt. Der Zuschauer wird gezwungen, sich teilweise verstörende Szenen anzuschauen, sich selbst zu hinterfragen und auch die Figuren, die sich in dieser Situation befinden. Und trotz der augenscheinlich nicht vorhandenen Story, schafft es der Film ein perfektes World-Building zu betreiben, das am Ende in ein logisches und extrem schockierendes Finale mündet.
Zu den Charakteren
Insgesamt verfolgt der Film 6 verschiedene Personen, von denen Haruna eindeutig die Hauptfigur ist. Dennoch bleibt die emotionale Auslegung sehr einheitlich und Haruna bekommt nicht übertrieben viel mehr als die anderen.
Haruna ist die Person, die im Film vieles zusammenhalten will, aber auch nicht weiß, was sie da eigentlich zusammenhält. Ihr Charakter ist unglaublich konträr, je nachdem, mit wem sie interagiert. Die anderen Figuren sind hier deutlich offensichtlicher gezeichnet. Durch die Interview-Szenen werden jedoch auch sie in ein anderes Licht gerückt, weil sie Fragen beantworten sollen, die in einem normalen Gespräch nie aufkommen und dadurch die kommenden Szenen auf eine neue Interpretationsgrundlage stellen. Interessant ist hierbei zu erwähnen, dass Ichiro, der von allen Seiten gemobbt und ausgegrenzt wird, keine Interviewszene hat, während manche sogar mehrfach zum Zug kommen. Ist Ichiro deswegen im Nachteil? Nein, denn Ichiro wird im ganzen Film von Haruna hinweg interviewt und braucht damit ein dokumentarisches Interview nicht mehr.
Über die Figuren wird dabei insbesondere das Thema „Liebe“ definiert, da jede Figur eine eigene Vorstellung von Liebe hat. Als animalischer Trieb, eine Abhängigkeit oder das Fliehen in einen rauschähnlichen Zustand, der mit wahren Leben nichts mehr zu tun. Ausprobieren, ob man homosexuell ist. Figuren, die augenscheinlich ein Paar sind, aber sexuell nicht empfinden, sich aber auch nicht trennen können. Es ist einfach interessant, wer welche Beziehung zu dem Thema hat und wie damit umgegangen wird.
Was nun für einen Film wie „River’s Edge“ absolut tödlich wäre, ist der falsche Cast. Doch die Schauspieler spielen ihre Rollen mit einer solchen Gleichgültigkeit, dass es für den Film einfach nur perfekt ist. Wirklich keiner ist fehlgecastet, selbst Nebencharaktere sind gut, sodass man hier absolut rohe Performances beobachten kann, die großes Talent erfordern. Under-Acting heißt nämlich nicht, dass man einfach nur nichts machen muss.
Fazit
Ihr seht schon, „River’s Edge“ ist speziell. Und das würde ich dem Film auch als seinen einzigen großen Nachteil auslegen: entweder man kann damit was anfangen, oder man es einfach nicht.
Dementsprechend tue ich mich mit einer allgemeinen Empfehlung schwer. Da heißt es einfach nur „Ausprobieren“ und dann selbst entscheiden, ob ein Experimental-Film wie „River’s Edge“ was für einen ist – oder eben nicht.
Für mich war er was.
Beitrag wurde zuletzt am 19.03.2023 22:47 geändert.
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