Aufgrund der Ausführlichkeit dieser Rezension könnten sich hier und in den Charakterverlinkungen eventuelle Spoiler befinden.Lange habe ich damit gehadert, eine Rezension zu diesem Manga zu schreiben. Nach dem ersten Lesen habe ich mich nicht getraut, nach dem zweiten Mal hatte ich die Hosen voll, doch jetzt, beim dritten Anlauf und nach einem weiteren Re-Read aufgrund meines
Charakterprojekts, versuche ich nun endlich, etwas auf Papier zu bringen, das diesem Werk gerecht wird, und mit diesen Worten sollte klar sein, dass der Rezensent das Schaffen von
Naoki Urasawa so sehr verehrt, dass er glücklich und sorgenfrei ins Jenseits fahren kann, wenn er weiß, dass er mit einem von seinen Mangas in den langsam zu Knochen verwesenden Händen begraben wird. Wer Fanboy-Gebrabbel nichts abgewinnen kann: Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen.
Die Geschichten von Herrn Urasawa sind komplex, vielschichtig, werden erzählt aus der Sicht von mehreren Personen, die für teils mehr, teils weniger Chapter die Rolle des Protagonisten einnehmen, und decken oft eine Zeitspanne von mehreren Generationen oder sogar Jahrhunderten ab. Bei Letzterem hat Herr Urasawa sich bei diesem Werk ordentlich zurückgehalten, denn die Hauptstory spielt sich »nur« zwischen 1969 und 2018 ab, und bei der am weitesten zurückgehenden Szene sieht man eine kurze Rückblende aus dem Jahr 1959 – im Grunde also die Zeitspanne eines Menschenlebens. So ungefähr kann man die Reise, auf die dieser Manga einen mitnimmt, auch beschreiben. Die Auswirkungen einer harmlosen Fantasy-Story, die sich die »20th Century Boys« im Kindesalter zusammengereimt und im
Buch der Prophezeiungen niedergeschrieben haben, zeigt sich erst im Erwachsenenalter, wenn der
Freund den Inhalt dieser Geschichte zur Realität werden lässt. Was sich dazwischen zugetragen hat, erfährt man in etlichen Rückblenden, die teilweise ganz eigene Haupthandlungsstränge darstellen.
Grundsätzlich tauchen die wichtigsten Charaktere in drei Altersstufen auf: in ihrer Kindheit (1969 – 1971), im Erwachsenenalter (1997 – 2000) und im etwas reiferen Erwachsenenalter (ab 2014).
Kinder besitzen einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dieser wird ihnen durch die vielen Superhelden-Serien vermittelt. Die Trennung zwischen Schwarz und Weiß ist meistens sehr klar zu erkennen. In ihrer Kindheit haben
Kenji Endou und seine Freunde ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Sie haben eine »Geheimbasis« gebaut, diese mit allerlei Kram zur Unterhaltung (Mangas, Radio …) ausgestattet und ringsherum »Fallen« aufgebaut, um »Unbefugte« fernzuhalten. Wie es für Kinder üblich ist, sind sie den lieben langen Tag herumgetollt … doch sie wurden auch kreativ! Inspiriert durch den Manga »
Tetsujin 28 Gou«, der sich damals – 1969 – großer Beliebtheit erfreut hat, tüftelten sie ihre eigene Heldengeschichte aus. Die Ideen der Kinder waren unrealistisch und vorhersehbar, und der Roboter in dieser Geschichte besaß nicht durch bloßen Zufall eine frappierende Ähnlichkeit mit jenem aus »
Tetsujin 28 Gou«. Wo Kinder anderswo den Wissensstand und die Intelligenz eines Erwachsenen aufweisen, ist hier die Darstellung der Kinder sehr realitätsnah. Dreht man bei den Flashbacks die Uhr nicht ganz so weit zurück – z. B. in die für die Story relevanten Jahre 1970 und 1971 – bemerkt man eine deutliche und nachvollziehbare Charakterentwicklung. Im Erwachsenenalter erkennt man ihre angeborenen Persönlichkeitsmerkmale wieder, auch wenn diese von Figur zu Figur unterschiedlich ausgeprägt sind. So behält beispielsweise
Yoshitsune auch als
Erwachsener seine introvertierte und etwas schüchterne Art, auch wenn man immer wieder erkennt, dass in ihm mehr Mut steckt, als er sich selbst zutraut. Besonders interessant ist die Entwicklung der beiden dicken Unruhestifter
Mabou und
Yanbou, die sich als
schlanke Erwachsene keiner Schuld bewusst sind, das Mobbing von damals nur für ein Spiel halten und ihre Opfer als Freunde bezeichnen. Sie strahlen eine überraschende Gemütsruhe und inneren Frieden aus, doch ein paar
Jahre später und wieder einige Kilos mehr auf den Hüften führen sie eine weitere Charakterentwicklung bzw. –rückentwicklung durch und ihr hinterhältiges, miesgelauntes, aggressives und gehässiges Ich, das vor ein paar Jahren aufgrund ihres perfekten Lebens friedlich geschlummert hat, tritt nun wieder zum Vorschein.
Otcho ist ein weiterer von Kenjis Schulkollegen. Als Alphatierchen und mit einer Menge Selbstvertrauen gesegnet, ist es nur natürlich, dass er in Kenjis Freundeskreis als eine Art Anführer angesehen wurde. Als
Erwachsener geht er nach einem Schicksalsschlag auf eine Selbstfindungsreise. Er bekommt zwar nicht die Antworten, die er sich erhofft hat, dennoch geht er aus dieser Reise stärker hervor und lebt danach in einer harten Welt, in der Gewalt, Drogen und Prostitution zum Alltag gehören. Otcho ist für die eher actionreichen Momente zuständig, wenn er sich beispielsweise mit
Chaipon, dem Chef der thailändischen Mafia, anlegt oder zusammen mit dem Mangaka
Kakuta einen Ausbruch aus der
Umihotaru-Gefängnisanlage versucht. Obwohl Herr Urasawa in seinen Mangas nur selten die Gesetze der Physik bricht – mit Ausnahme von Fantasy-Elementen, die ihren eigenen Regeln unterliegen –, wird Otcho in manchen Szenen etwas zu stark dargestellt, was dem Realismus jedoch keinen Abbruch tut. Spätestens dann, wenn er von ein paar Kerlen zusammengeschlagen und danach von
Katsuo gefunden wird, erkennt man, dass das Älterwerden auch am größten Badass seine Spuren hinterlässt. So stark er körperlich und mental auch sein mag, wohnt in ihm dennoch eine verletzliche Seele. Wunden heilen zwar, doch die Narben sind immer noch zu sehen. Als sein weibliches Gegenstück könnte man die Zollbeamtin
Yukiji bezeichnen. Sie ist auch gleichzeitig Kenjis
Love Interest. Romantik ist in diesem Manga jedoch Mangelware, weshalb man nur ein paar kurze, mehr oder weniger romantische Rückblenden zu sehen bekommt, als Kenji es in der
Mittelschule verbockt hat, Yukiji ins Kino einzuladen, oder als Yukiji ein paar Jahre
später das Konzert von Kenjis Band besucht hat. Eine interessante Entwicklung macht
Maruo durch. Mit wenigen auf ihn zutreffenden Stichwörtern – »dick« und »feige« – wirkt er anfangs vielleicht wie jemand, der in puncto Ausarbeitung seiner Persönlichkeit im Schatten der anderen steht; und selbst als
Erwachsener scheint er das Kind in seinem Inneren nicht gänzlich unterdrücken zu können oder zu wollen. Doch nach den schrecklichen Ereignissen, die am »Silvester, an dem die Welt blutete« ihren Anfang gefunden haben, entwickelt
er eine Würde und gleichzeitig eine Gebrochenheit, wie sie nur jemand ausstrahlt, dem vor Augen geführt wurde, was wirklich wichtig auf dieser Welt ist, und der bereit ist, sein Leben für das Wohl der Allgemeinheit zu opfern.
Keroyon ist einer von Kenjis besten Freunden. Trotz seines temperamentvollen Charakters und seiner vielen Auftritte wirkt er als
Erwachsener dennoch eher wie ein
Side Character jener Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, hinter die merkwürdigen Vorfälle der letzten Zeit zu kommen. Sein wahrer Wert – wenn
er dann schon ein paar Fältchen bekommen hat – zeigt sich erst in den letzten Jahren dieser Geschichte, also ab 2014. In dieser Hinsicht teilt er ein ähnliches Schicksal wie Maruo. Während dieser jedoch einen neuen
Verbündeten im Showbusiness gefunden hat und an den Freund über Vitamin B sowie für die Öffentlichkeit weniger zugängliche Wege gehen will, taucht Keroyon im Jahr 2014 ganz unerwartet in den USA wieder auf. Nicht nur die große Zeitspanne, die in Herrn Urasawas Werken abgedeckt wird, ist eine seiner Trademarks, sondern auch das Abgrasen praktisch aller Gebiete auf diesem Planeten. Ebenfalls etwas kleinere Rollen spielen
Donkey und
Konchi. Ersterer gibt den Anstoß dazu, dass Kenji überhaupt erst auf manche merkwürdigen Dinge aufmerksam wird – leider durch seinen Tod. Nein, das ist kein Spoiler, denn Donkey wird erstmals eingeführt, wenn der Leser von seinem Tod erfährt. Dafür darf
er bei den Chaptern, welche die Vergangenheit der Charaktere behandeln, so richtig aufblühen. Seinen Tod betrauert man erst, nachdem er aufgrund der vielen Geschichten aus seiner Grundschulzeit zu einem Sympathieträger geworden ist. Bei Konchi wird der umgekehrte Weg genommen. In den Rückblenden erscheint er nur in wenigen Panels, weshalb er vom Leser gar nicht so richtig wahrgenommen wird. Umso erstaunter ist man dann, wenn er als
Erwachsener wieder auf der Bildfläche erscheint. Er nimmt eine ganz besondere Rolle ein und ist sich gar nicht darüber im Klaren, welche großen Auswirkungen seine Handlungen haben.
Genauso wie Mabou und Yanbou gibt es Kinder, die nicht direkt zu Kenjis Clique gehören, jedoch in seine Klasse gehen und teilweise ebenfalls mit dem Buch der Prophezeiungen in Kontakt kommen. Diese Kinder sind es, die für den Leser zu Beginn die offensichtlichsten Kandidaten sind, wer hinter der Maske des großen Enigma stecken könnte – hinter der Maske des Freundes. Dieser ist es, der den Inhalt des Buches der Prophezeiung auf die Realität übertragen hat. Sehr suspekt ist natürlich
Fukubei, der am Tag des Klassentreffens als
Erwachsener erstmals in Erscheinung tritt und niemandem so richtig im Gedächtnis geblieben ist. Genauso suspekt ist der etwas schüchterne
Sadakiyo, der sich damals immer hinter einer Maske versteckt hat – genauso wie der Freund heute. Als
Erwachsener ist Sadakiyo der neue Lehrer von
Kyouko Koizumi, auf der in der zweiten Hälfte in vielen Chaptern der Fokus liegt und die dadurch zu einer der vielen Hauptcharaktere dieses Werkes wird. Sadakiyo ist noch immer genauso exzentrisch wie früher, doch diese Charaktereigenschaft hat nun extreme Züge angenommen, die sich durch offensichtliche (?) Geistesgestörtheit erkennbar machen. Ein ganz großes Mysterium ist ein Junge namens
Katsumata, über den man eigentlich nur Gerüchte hört. Alle Erwähnungen von Katsumata wirken wie beiläufig eingestreut, weshalb man gar nicht vermutet, dass er im weiteren Verlauf doch noch eine Rolle spielt. Die Aufmerksamkeitsspanne sollte nicht nur aus diesem Grund stets sehr hoch sein, wenn man einen von Herrn Urasawas Mangas in die Hände nimmt.
Diese »20th Century Boys« – im Manga werden sie nur ein einziges Mal so genannt – erleben im Erwachsenenalter ein Endzeitszenario, das sie sich in ihrer Kindheit selbst ausgedacht haben. Viele Dinge, die im Buch der Prophezeiungen niedergeschrieben sind, sind aufgrund ihrer wenig realistischen Umsetzbarkeit als Ideen, die der Fantasie von Kindern entsprungen sind, leicht zu erkennen. Für eine möglichst realitätsnahe Geschichte hat Herr Urasawa Mittel und Wege gesucht, die Idee der Kinder so umzusetzen, dass diese auch im wahren Leben nicht undenkbar sind. So ist beispielsweise das originale Design des Roboters, der die Erde angreift, jenes eines typischen zweibeinigen Roboters, wie er in so ziemlich allen Mecha-Serien zu sehen ist.
Dr. Hiroshi Shikishima, der mit der Konstruktion des Roboters beauftragt wird, watscht die größenwahnsinnigen Hirngespinste des Gremiums ab und erklärt den Mitgliedern und somit auch dem Leser, aus welchen Gründen eine solche Konstruktion nicht möglich sei. Seine Ausführung des Roboters, der auf den Namen
Gott der Zerstörung getauft wird, ist zwar nicht so schnittig, dafür aber realistisch. Generell wird hier viel Wert auf Realismus gelegt, auch wenn es leichte Fantasy-Anleihen in Form übernatürlicher Fähigkeiten von nur ganz, ganz wenigen Charakteren gibt. Biologische Kriegsführung ist ein realistisches Szenario. Ob die Umsetzung davon ebenfalls realistisch ist … na ja, darüber könnte man diskutieren. Wie die aktuelle Lage, in der wir uns schon seit rund zwei Jahren befinden, zeigt, ist die Sache ohnehin nicht ganz einfach. Meinungen gehen auseinander oder ändern sich, auch die der [(selbst)ernannten] Experten. Seit der realen Pandemie liest man diesen Manga übrigens ganz anders. Man stellt ganz unbewusst Vergleiche an, was diesen Manga zu einem Werk von zeithistorischem Interesse macht. Wie gehen dort die Menschen mit einer Pandemie um? Wie entwickelt sich diese? Wie groß ist die Ansteckungsgefahr? Wie nehmen die Menschen einen neu entwickelten Impfstoff an? Wie gefährlich ist das Virus und wie viele Leute sterben? Interessanterweise sind die Zahlen im Vergleich zur Realität lächerlich gering. Auf der anderen Seite sind die Symptome in dieser Geschichte weitaus gravierender. Nähere Informationen dazu kann man im Text zu der
Freundschaftspartei nachlesen.
Mein Lieblingscharakter aus diesem Manga verdient natürlich nicht nur einen Ehrenplatz in meiner Charakter-Favoritenliste, sondern auch einen eigenen Absatz in dieser Rezension.
Kanna tritt in Kenjis Fußstapfen, nachdem dieser als der große Protagonist aufgebaut wurde. Wie gesagt, in Herrn Urasawas Werken gibt es viele Protagonisten. Ihren Erstauftritt hatte sie sogar schon recht früh – als niedliches
Baby. Sie ist das Kind von Kenjis großer Schwester
Kiriko, die eines Tages ohne Vorwarnung an ihren Bruder und ihre
Mutter herantrat und diese bat, sich um Kanna zu kümmern. Genauso plötzlich verschwand sie dann wieder … Auch wenn man Kanna kurz als kleines
Kind sieht, erkennt man ihre wichtige Rolle erst dann, wenn sie zu einem Teenager herangewachsen ist. Durch Kenjis Einfluss liebt sie die Rockmusik der 60er-Jahre und atmet das Lebensgefühl dieser Zeit. Ein Aushängeschild für das Hippie-Motto »Peace, Love & Rock 'n' Roll« ist sie jedoch nicht, denn Kanna geht weitaus extremer im Kampf gegen den Freund vor. Wie Kenji und die anderen hat auch sie viel durchmachen müssen, was sie besonders hart getroffen hat. Ihre daraus resultierende innere Leere wurde nach und nach mit Hass auf den Freund gefüllt, dem sie bei einem Großangriff das Licht ausknipsen möchte. Kannas Mutter Kiriko ist übrigens die schönste Frau in der Manga-Welt – nicht die heißeste oder schärfste, sondern die schönste.
Natürlich müssen über den großen Antagonisten dieser Geschichte, den Freund, auch noch ein paar Worte verloren werden. Es gibt wohl kaum eine auf Papier gezeichnete Gestalt, die mysteriöser ist, und das nicht nur aufgrund seiner Maske. Doch wer steckt hinter dieser Maske? Und hat er wirklich übersinnliche Fähigkeiten? Wie schafft er es, auf die Leute eine solche Faszination auszuüben, dass diese ihm quasi aus der Hand fressen? Er hat vielleicht sogar eine unglaubwürdig große Ausstrahlung, die auch mit einer zu großen Naivität aufseiten seiner Zuhörerschaft erklärt werden kann. Dennoch hat auch er klein angefangen und sich auf Grundlage seines Plans Stück für Stück nach oben gearbeitet, weshalb es eine nachvollziehbare Entwicklung der Geschehnisse gibt. Als Leser bekommt man häppchenweise Indizien, wer er sein könnte, wobei man immer wieder in die Irre geführt wird – so wie es sich für ein solches Format gehört. Der Level, auf dem das alles stattfindet, ist natürlich schwindelerregend hoch, und liest man die letzten paar Seiten von »
21st Century Boys«, in denen man die ganze Wahrheit erfährt, entfleucht einem nur ein Wort, während man alle Geschehnisse im Zeitraffer Revue passieren lässt: Wow …
Bei all diesen tollen Haupt- und wichtigsten Nebencharakteren darf man die Komparsen natürlich auch nicht vergessen. Man
kann sie auch nicht vergessen, denn diese besitzen ihren ganz eigenen Charme und tragen zum nahezu perfekten Gesamtbild dieses Mangas bei. Keinen Komparsen möchte man hier missen. Beispielsweise kommen
Popp, seine
Frau und
Peter nur in einem oder zwei Kapiteln vor, doch die kurze Geschichte, die in dieser postapokalyptischen Welt erzählt wird, ist herzergreifend, aber nie zu schmalzig oder nur darauf aus, bestimmte Emotionen im Leser hervorzurufen.
Markenzeichen von Herrn Urasawas Werken sind die Verwendung und Mystifizierung von Symbolen. Ist es beim Jahre später erschienenen »
Billy Bat« die Zeichnung der namensgebenden Fledermaus, wird man hier immer wieder konfrontiert mit jenem Symbol, das Kenjis Freunde kreiert und Jahre später vom Freund gestohlen wurde. Viele der wichtigsten Charaktere besitzen Spitznamen, doch ist es ein ganz besonderer Spitzname, der einen möglichen Hinweis auf den Freund gibt. Genauso wie die wenigen und irrelevant erscheinenden Erwähnungen von Katsumata ist auch dieser Hinweis sehr gut versteckt und wird von den meisten Lesern – besonders westlichen Lesern – vermutlich gar nicht als solcher erkannt. Herr Urasawa ist ein Meister der Mystery, der es immer wieder schafft, die Story spannend zu halten – trotz der beachtlichen Länge seiner Geschichten. Ein Höhepunkt folgt auf den nächsten. Auf jede Antwort, die man bekommt, stellt sich eine neue Frage; nach jedem Hinweis, der entschlüsselt werden kann, folgen neue Mysterien. Da Zeit, Ort und handelnde Personen immer wieder abwechseln, können Dutzende Chapter vergehen, bis man auf diese Mysterien wieder zurückkommt.
Diejenigen, die Herrn Urasawas Werke kennen, wissen bereits um die hohe Qualität seiner Zeichnungen. Die Charaktere sehen aus wie der Realität entrissen und in einen Manga transferiert. Herrn Urasawas Können ist bei »
Billy Bat« noch deutlicher zu erkennen, da er dort historischen Figuren wie
Albert Einstein,
John F. Kennedy oder
Lee Harvey Oswald neues Leben als Mangafiguren einhaucht. Ab und an folgt ein Panel, das sich nur kaum vom vorherigen unterscheidet. Oft wird herangezoomt, um den Gesichtsausdruck der handelnden Person noch besser zu erkennen, oder es gibt nur unwesentliche, auf den ersten Blick kaum erkennbare Unterschiede. Letzteres hat den Effekt, dass sich die Geschichte dadurch selbst entschleunigt und die Spannung hochgehalten wird. Gleichzeitig wird der bereits vorhandene Eindruck von Realismus verstärkt, da auch im wahren Leben ein Mensch ständig in Bewegung ist, auch ohne wesentliche Veränderungen in Mimik und Gestik.
Nun zur Musik. Musik in einem Manga?! Richtig gelesen. Der Manga ist nach dem gleichnamigen
Song der Rockband
T. Rex benannt. Seit ich den Manga kenne, ist dieses Lied ein ständiger Untermieter in meinem Kopf, und zwar in Form eines Ohrwurms. Allerdings nicht die Art von Ohrwurm, die einem den Verstand raubt, sondern die Art, die einem Freude bereitet. Wenig überraschend kommt dieses Lied auch im Manga selbst vor. Mit einem Besen und jeder Menge Fantasie bewaffnet, ist dieses Lied bei den imaginären Auftritten des Mittelschülers Kenji nicht mehr wegzudenken. Auch der kleine US-Amerikaner
Danny tat mit einem Besen gerne so, als sei er ein kleiner Rockstar. In einer nostalgischen Szene wird gesagt, dass auch Fukubei dieses Lied immer sehr gerne gehört hat. Das wichtigste Lied in diesem Manga ist vermutlich nicht das titelgebende »20th Century Boy«, sondern das von Kenji selbst geschriebene »Bob Lennon«. Nach eigener Aussage des Komponisten soll es so klingen wie eine Mischung aus
Bob Dylan und
John Lennon. Die Lyrics kann man im Charaktereintrag zu
Kenji nachlesen, ganz unten innerhalb des Spoilerfeldes. In dieser Zeit der Hoffnungslosigkeit, in der sich nach Frieden gesehnt wird, sind Vergleiche mit Woodstock nicht abwegig, zumal dieses riesige Konzert mehrmals Erwähnung findet. Für speziell zwei Bands wird die Bühne in diesem Manga geräumt: zum einen natürlich für Kenjis namenlose Band, zum anderen für die Hardcoreband
Elohim Essaims, Kyoukos Lieblingsband. Beide Gruppen sind zwar Underground-Acts, jedoch von keiner geringen Bedeutung für die Story.
Was man vielleicht als negativen Punkt werten könnte, ist der zu rasche Alterungsprozess mancher Charaktere, was man vor allem an Yoshitsune oder Otcho erkennt, deren man die paar Jahre, die zwischen den Zeitsprüngen liegen – einen großen Zeitsprung gibt es zwischen den Jahren 2000 und 2014 – gar nicht ansieht. Die beiden jüngeren Gestalten des
Attentäters wurden vielleicht nicht ganz glaubwürdig getroffen. So sieht er im Jahr
1989 aus wie ein junger Mann, der gerade erst die erste Sprosse der Karriereleiter erklommen hat; fünf Jahre später, im Jahr
1994, sieht er jedoch aus meiner Sicht etwas jünger aus und flirtet mit
Rena Shikishima, die zu dieser Zeit noch eine Schülerin war. Der deutsche Verlag hat übrigens eine sehr eigene Entscheidung getroffen, indem man ihren Namen zu »Lena« geändert hat. Bei keinem anderen Charakter wurde es für nötig gehalten, den Namen einzudeutschen. In Bezug auf die Namen und Bezeichnungen ist mir die fehlende Kongruenz etwas negativ aufgefallen, wobei ich nur die deutsche Version vor mir liegen habe und deshalb auch nur diese bewerten kann. So war man sich bei
Mitsuyo Takasu nicht über ihre Romanisierung einig. Zu Beginn hieß sie noch
Takasugi, doch dann ist man glücklicherweise schnell zu jenem
Namen übergegangen, den man auch auf den üblichen Internetseiten am häufigsten antrifft. Bei der biologischen Kriegsführung ist man bei den Bezeichnungen hin und her gehüpft. Oftmals wird von einem »Virus« gesprochen, dann aber wieder von einem »Bakterium«. Auch hat man sich nicht entscheiden können, ob man bei den Freizeitparks besser den deutschen oder den japanischen soll, denn einmal heißt es »Freundschaftsland« und wenige Seiten später »Tomodachi-Land«. Beim Lesen des Mangas hatte ich ab und an das Gefühl, dass das eingeblendete Datum nicht ganz korrekt ist und dass das Jahr 2014 statt 2015 richtig gewesen wäre, und umgekehrt. Da ich darauf jedoch nicht so genau geachtet habe, sind die Angaben ohne Gewähr.
»
20th Century Boys« ist eines der vielen Meisterwerke von Naoki Urasawa, der zu den intelligentesten, kreativsten und talentiertesten Mangaka überhaupt gehört. Zu den Stärken zählen Story, Charaktere und Zeichenstil – man kriegt hier also das Gesamtpaket geliefert. Man sollte nur aufpassen, dass sich in diesem Paket kein in Salz eingelegter Lachs aus Hokkaido befindet. (Kleiner Insider-Gag.) Schwächen finden sich hier nur im Detail, sofern man diese überhaupt wahrnimmt. Warum der Manga dennoch nicht ganz oben in meiner Manga-Liste platziert ist? Weil »
Dragon Ball« für mich eine Sonderstellung hat.