Literatur Club

Unendliche Geschichte: Neue Stadt, Neues Glück

Avatar: SkyFief
V.I.P. Club-Junior
#16
Kapitel 1
„Neue Stadt, neues Glück“, hätte ich gedacht, wäre ich Optimist gewesen. Ein Gebäude, das aussah wie ein längs aufgestellter Schuhkarton, wurde mein neues Zuhause. „Wenigstens haben sie die Atemlöcher nicht vergessen“, machte ich mir selbst Mut, während ich meinen Koffer die Treppe hinaufhievte. Kaum oben angekommen, erwartete mich auch schon die nächste Herausforderung: An ganzen sieben Wohnungstüren musste ich nun vorbeihumpeln - und das natürlich im Idealfall ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Es war wirklich nicht einfach, den Koffer tragend auf Zehenspitzen zu laufen, doch langsam aber sicher kam ich meinem Ziel, dem Appartement mit der Nummer 8 näher.
Aus der Wohnung nebenan dröhnte laute Musik, von irgendwo war Babygeschrei zu hören. "Auf eine gute Nachbarschaft!" sagte ich zu mir selbst, als ich meinen Schlüsselbund hervorkramte. Natürlich passte erst der letzte Schlüssel, wie könnte es auch anders sein? Drinnen roch es etwas muffig, also ging ich ans Fenster und riss es auf. Mein Blick schweifte nun über zerschossene Backsteingebäude, die vermutlich zur verrußten, alten Fabrikanlage hier gehörten. Es war ein verregneter Herbsttag und die wenigen Passanten eilten mit schlecht gelaunten Minen vorbei, ihren Pflichten nachkommend.
"Der Krieg und die darauf folgende Besetzung haben viel verändert." war mein erster Gedanke als ich die 5-Mann starke Patrouille im Gleichschritt die Straße hinunter laufen sah. Sobald die Soldaten das Fenster passierten, beschloss ich meinen Koffer neben das Bett zu legen und versuchte erst einmal - in Gedanken versunken - meine Eltern anzurufen. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter, worauf ich mit entspannter Stimme sprach: "Hallo Mama, hier ist Mats. Ich bin gut angekommen, die Zugfahrt war etwas langatmig, habe mich aber sehr nett mit einem Mädchen unterhalten". Als ich den Auflege-Knopf gedrückt hatte, begann ich den Koffer auf das Bett zu legen, um meine Wäsche in die Schränke einzusortieren.
Etwas raschelte, als ich meinen dunklen Tarnumhang zusammenfalten wollte. Er hatte mal meinem Onkel gehört, bevor dieser in einer der unzähligen Schlachten ums Leben gekommen war. Nun gehörte er mir und ich zog einen knittrigen Zettel aus eine der Innentaschen hervor. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern und bei genauerer Untersuchung fiel mir die saubere und elegante Handschrift auf.

„Hallo Fremder,
hoffentlich erinnerst du dich lächelnd an mich, wenn du diesen Zettel viele Meilen entfernt von mir liest. Über Schrift lässt sich verbinden, was sich einst fremd war und Vertrautheit schaffen, dort wo der Krieg eine Schneise im Leben hinterlassen hat. Mögest du fortschreiten, niemals vergessen, jedoch neue Kraft erlangen und mit dem Bewusstsein den Tag beginnen, dass du in dieser schweren Zeit mehr denn je gebraucht wirst."
- Dein fremder Freund

Erstaunt über die unverhoffte Kunde lies ich mich auf dem staubigen, harten Bett in der Ecke des Raumes nieder. War es etwa diese Nachricht, aufgrund derer mein Vater mir den Tarnanzug mit auf den Weg gab? Dabei hatte ich es schon als die Spinnerei eines Kriegsverlierers abgetan, der viel zu viel durchgemacht hatte, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Ich dachte, er fechte im Geiste noch Schlachten aus und wolle mich mit diesem Kleidungsstück für einen Kampf gegen Windmühlen wappnen. Aber vielleicht war ja doch mehr dahinter und mein Vater dem Wahnsinn noch nicht gänzlich verfallen - vielleicht würde der Anzug mir noch gute Dienste erweisen.
Als ich in der Küche den Hahn aufdrehte, floss kein Wasser,- wie so oft. Also blieb mir nur der Weg zur öffentlichen Wasserstelle, ein paar Straßen weiter, um mir eine Portion Nudeln zu kochen.
Draußen waren laute Stimmen zu hören. Als ich mit zwei Eimern in der Hand durch den Flur ging, sah ich, wie ein Trupp sowjetischer Soldaten die Wohnung nebenan durchsuchte und die dort lebende Familie abführte. Ich ging schnell und mit gebeugtem Haupt vorbei, um ja nicht aufzufallen. Es geschah schnell, dass man in so einer Situation gleich mitgenommen wurde.
Draußen auf der Straße hockte unter einem selbstgebauten Unterstand ein Einbeiniger, einer der zahllosen Kriegsversehrten, die nun, nach dem Krieg, nicht mehr wussten wohin mit sich.
Sein Blick streifte unwillkürlich umher, er schien stark traumatisiert von den vergangenen Ereignissen zu sein.Als ich meinen Weg fortsetzen wollte hörte ich von draußen einen lauten Schrei - der Schrei eines Kindes - Ein Junge lag Blut überströmt auf dem Boden. Er war wohl ein Mitglied der soeben abgeführten Familie und hatte anscheinend den Druck und die Angst nicht länger ausgehalten. Womöglich hatte er aus Panik diesen Fluchtversuch unternommen, der einen Schuss in den Rücken folgen ließ. Seine kleine Schwester schrie und seine Eltern weinten verzweifelt während sich eine Blutlache um den Jungen herum bildete.
Die wenigen Menschen die ich sah liefen mit gesenktem Haupt vorbei. Man hätte vermuten können, dass sie sich nicht für den Vorfall interessierten, die Wahrheit war jedoch einfacher – sie hatten Angst. Ein bitterer Geschmack machte sich auf meiner Zunge breit und ich musste beinahe würgen. Ich lief, ohne mich noch einmal umzublicken, hinter eine Hausecke, legte die Eimer ab und hockte mich, mit der Hand gegen die Hausfassade gelehnt, fröstelnd hin um mich zu beruhigen. Nach gefühlten fünf Minuten konnte ich wieder einigermaßen ruhig atmen, doch meine Hände zitterten noch immer. Der Hunger war mir nun vergangen.


Kapitel 2
Irgendwann schaffte ich es dann doch, einzuschlafen. Leider war die Nachtruhe nur von kurzer Dauer.
Ein hektisches Klopfen und Rufen an der Tür riss mich aus dem Schlaf. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es gerade erst kurz nach fünf war,- er würde erst in einer Stunde klingeln. Für einen Moment befürchtete ich, die Militärpolizei würde mich irgendeiner Untat verdächtigen und festnehmen wollen, aber in dem Fall hätten sie warscheinlich schlicht die Wohnung gestürmt, anstatt vorher anzuklopfen.
Entnervt stieg ich aus dem Bett und zog mir Jeans und ein Tshirt an, um anschließend verschlafen zur Tür zu torkeln. Ein Blick durch den Türspion offenbahrte mir nur, dass es im Flur dunkel war, der Klopfer -oder eher die Klopferin, der Stimme nach zu urteilen- hatte sich offenbar nicht die Mühe gemacht, das Licht anzumachen. "Wird schon keine Räuberbande sein." dachte ich mir, und öffnete die Tür.

Verschlafen und mit einer leicht gereizt klingenden Stimme öffnete ich die Tür. "Ja?"
Kaum war diese zur Hälfte offen, schlug die Person, welche geklopft hatte, mir die Tür ins Gesicht. Mit einer sichtlich angepissten Miene wurde ich plötzlich wach und erschrak - eine rothaarige junge Frau, ungefähr meines Alters, kniete weinend vor mir und flehte mit bebender Stimme "Ich mache alles was du willst, aber bitte, BITTE lass mich bei dir untertauchen".

Während sie diese Worte sprach, hörte ich von außen einen Kampfpanzer vorbeifahren, welcher mit Suchscheinwerfern mein dunkles Zimmer zum Tag machte.

Leicht zögernd zeigte ich auf die freie, aber dreckige Fläche unter dem Matratzenrost des Bettes. Mit einem leisen "Danke" huschte sie an mir vorbei, während ich einen meiner Nachbarn im Flur vorbei gehen sah. Ich schloss die Tür.

Ich setzte mich auf den Boden und musterte die unbekannte Frau unauffällig.
Während der nächsten Stunde konnte man noch aus der Ferne das bebende Geräusch der tonnenschweren Fahrzeuge vernehmen.
Die rothaarige Frau gab keinen Laut von sich und wagte es nicht unter dem Gitterrost hervor zu kommen.
Sie machte einen sehr mitgenommen Eindruck, ihr eingefallenes Gesicht und ihre leicht zerissene Kleidung fielen mir direkt auf.
Wir schwiegen eine Weile und gerade als ich den Mut gesammelt hatte, um sie nach den genaueren Umständen zu fragen, klingelte mein Wecker und brachte mich vollkommen aus dem Konzept.


Kapitel 3
„Ähm also…“ ich hätte beinahe weiter gestammelt, doch als ich in ihr verängstigtes Gesicht sah wurde ich ruhig und versuchte ihr gegenüber einen gelassenen Eindruck zu hinterlassen. Es war als würde man sich einem scheuen Reh nähern, doch ich glaubte mit etwas Geduld könnte ich zu ihr durchdringen. Leider hatte ich im Moment nicht mehr viel Zeit, da es bereits früh am Morgen war und bald die Lebensmittelrationen ausgeteilt wurden und ich konnte es mir nicht leisten zu spät zur Ausgabestelle zu kommen, da ich bereits gestern aufgrund des schrecklichen Vorfalls nichts in den Magen bekommen hatte. „Kannst du hier warten?“
Sie nickte nur und sah mich weiter an- "Also gut." seufzte ich, und machte mich auf den Weg zur Ausgabestelle. Ich war recht früh, sodass die Schlange vor der alten Holzbaracke, in der die Lebensmittel gegen Lebensmittelkarten eingetauscht werden konnten, noch nicht so lang war wie sonst. Nach gerade mal einer halben Stunde konnte ich meine drei trockenen Kommissbrote, einen kleinen Sack Kartoffeln und weitere Nahrungsmittel, die für die nächste halbe Woche reichen mussten, in Empfang nehmen. Auf dem Rückweg fragte ich mich, was ich mit meinem ungebetenen Gast anstellen sollte. Bleiben konnte sie nicht, das bisschen Essen, was ich hatte, reichte kaum für mich selbst, und einfach so weitere Rationen beantragen dürfte wohl schwierig werden. Als ich eine Abkürzung durch eine kleine, etwas abseits gelegene Gasse nahm, stellten sich mir auf einmal vier Gestalten in den Weg.
Es waren Soldaten gewesen.
"Ey du, du hast nicht zufällig eine rothaarige Frau in dreckigen Sachen in dieser Gegend gesehen?"
"N-nein", antwortete ich. Die Männer in den Uniformen sind hektisch an mir vorbeigerannt und in der Ferne verschwunden. Wer sie wohl war und was sie angestellt hatte? Auf dem weiteren Heimweg zerbrach ich mir den Kopf, wie ich wohl aus dieser schweren Lage herauskommen könnte, ohne zu verhungern oder als Feind des Volkes exekutiert zu werden, natürlich. Ich konnte mich glücklich schätzen, Dank meiner gesundheitlichen Lage in kein Arbeitslager geschickt worden zu sein, wobei es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch zu mir kommen würden. In meiner Parodie auf ein Zuhause angekommen, schaute ich unter die Matraze - sie lag immer noch da.
"Hör mal, was hast du eigentlich angestellt, dass sie hinter dir her sind? - Wenn du bleiben willst - erzähle mir alles".

Sie sah mich wie heute Morgen einfach nur an ohne ein Wort zu sagen. Die Angst in ihren Augen war nicht ganz verschwunden, ist aber zum Großteil einem berechnenden Unterton gewichen.
Nachdem ich noch eine Weile gewartet habe gestand ich mir einen, dass das so nichts wird. „Also gut, essen wir erst mal was.“ sagte ich in der Hoffnung, dass sie danach entweder unauffällig verschwindet oder ein Wunder geschieht. Auch wenn es nicht viel zu tun gab ließ ich mir Zeit mit der Zubereitung, denn das Nachzudenken fiel mir schon immer leichter wenn ich was mit den Händen zu tun hatte. Sie war hier nicht sicher, vor allem war ich nicht sicher solange sie hier war. Sie ist wahrscheinlich irgendwo ausgebrochen so wie sie aussieht.
Dann fiel es mir wieder ein. „Wir haben ein Problem“ fing ich an „Der Nachbar hat gesehen wie du hier reingekommen bist und wir wissen beide, dass man heutzutage niemandem vertrauen kann, du wahrscheinlich noch besser als ich.“
Beitrag wurde zuletzt am 04.10.2016 15:01 geändert.
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