Vielleicht gefällt sie euch ja.
Kapitel 1) Hibiko
Ich lebte stetig in einem eingerosteten dreckigen Käfig, ohne den Willen nur einmal zu versuchen diesem zu entkommen, doch dann kamst du.
Ich war schon immer kein Junge von großen Worten oder Taten, ich lebte in den Tag hinein und dachte nur an meine eigenen Sorgen und nicht an mein Umfeld. Die Schule plätschert vor mich her ohne mich groß zu unter- oder überfordern. Doch wirklich zu Ruhe kommen kann ich nur an Abenden, wo ich alleine die Sterne betrachte und der Wind mein Haar durchweht. Leute wie mich gibt es wie Sand am Meer, ich falle weder auf, noch möchte ich wirklich auffallen, ich bin einfach einer dieser Statisten in diesen coolen realitätsfernen Kinofilmen. Wenn ich mich wohl beschreiben müsste, würde das Wort "Langweilig" wahrscheinlich ausreichen. Ich weiß nicht was ich will und lasse mich einfach vom Strom der Zeit nach vorne schleifen.
Mein Leben ist in meinen Augen wie das von vielen, was wahrscheinlich daran liegt, das es eben so ist. Wann ich das letzte Mal mit meiner Familie geredet habe, ist mir nicht bewusst. Anfangs lebten wir zu dritt, waren glücklich und nichts schien dies ändern zu können. Meine Mutter, welche bereits oftmals versuchte schwanger zu werden, beschloss eines Tages zusammen mit ihrem Mann mich zu adoptieren, mich – der Sohn, der von seiner eigentlichen Familie abgestoßen wurde. Die Tage mit meiner "Familie" waren immer schön, doch mir schien etwas zu fehlen, etwas ... das ich nicht beschreiben kann. Nachdem meine "Mutter" dann doch nach vielen Jahren schwanger wurde, schien ich immer weiter in den Hintergrund gedrängt zu werden, alles drehte sich um meinen kleinen Bruder. Alle meine Bilder verschwanden, man vergaß für mich einzudecken, selbst bei der Urlaubsplanung wurde ich ausgelassen und dann hieß es nur: "Es tut uns leid, aber du kannst ja die Katze füttern, nicht wahr Schatz?" Dieses beklommene Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden, zog mich förmlich in seinen Bann, doch je mehr Zeit verging, desto mehr schien es gleichgültig für mich – denn immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf. Als ich jedoch alt genug war, langsam selbstständig auf mich aufzupassen, wurde ich wie Luft behandelt. Ich habe meine Eltern kaum gesehen, nur das Geld, das sie mir gaben, ließ mich nicht an ihrer Existenz zweifeln. Mein kleiner Bruder war ebenfalls nicht von mir begeistert und wünschte sich, mich nicht sehen zu müssen.
So lebte ich jeden Tag weiter, gelangweilt vom Alltag wachte ich immer ohne Tatendrang auf und legte mich unruhig schlafen. Ich fragte mich, ob es einen Ort gibt, an dem ich willkommen bin, immer wenn ich mir diese Frage stellte, wurde ich bloß noch melancholischer. Auf der einen Seite war mir alles gleichgültig, aber es gab Momente, da träumte ich in das Weltall fliegen zu können und die Zeit anzuhalten, auch wenn es nur für einen kleinen Augenblick war. Aber ohne weiter darüber nachzudenken, was dies für mich bedeutete, schlug ich mir das sofort wieder aus dem Kopf und widmete mich der Realität. Doch ich hatte immer ein unstillbares Verlangen, das ich nicht in Worte fassen konnte.
Ich stehe sehr oft vor dem Spiegel, streife mir durch mein schwarzes wuscheliges Haar und schau an mir herunter, langweilig und unbedeutend – genau so sehe ich aus und genau so bin ich auch. In diesem Haus, mit den mir fremd gewordenen Personen zu leben ist jedes Mal eine Überwindung für mich, ich will weder die gleiche Luft einatmen noch die gleichen Dinge sehen wie sie. Doch mich, ... mich möchte ich ehrlich gesagt auch gar nicht sehen. So gewöhnte ich mir an, einen Mundschutz zu tragen. Oft frage ich mich, ob ich überhaupt weiß was ich wirklich will, weil die Gedanken in meinem Kopf sich jedes Mal wiedersprechen. Ich wäre gerne jemand anderes, doch wäre ich jemand anderes, würde mein jetziges Ich verschwinden, heißt das ich würde sterben oder einfach in einer anderen Form weiterleben? Gleich nach solchen Gedanken werfe ich einfach alles über den Haufen und zieh mich zurück und denke an Dinge wie ... Ich schlafe ein und denke nicht weiter darüber nach.
Eines Nachts wachte ich schweißgebadet auf und zitterte am ganzen Körper, wankend schliff ich mich an mein Fenster für etwas Frischluft, ... kaum hatte ich das Fenster geöffnet erblickte ich eine Art Sternschnuppe, sie war deutlich größer und leuchtete blau und lila. Ich verfolgte sie mit meinem Blick, bis sie hinter einem Berg am Firmament verschwand. Ganz perplex was ich dort gerade erblickte, dachte ich schnell noch an einen Wunsch, bis ich ein dumpfes Geräusch hörte.
Ich schlüpfte schnell in meine Schuhe und lief nach draußen, um nachzusehen, aber ich konnte nichts erblicken. Ich schaute mich um, die Laternen tauchten die Straße in ein Orange und da stand ich nun. Da verharrte eine kurze Zeit und starrte auf den Boden, bis ich wieder hineinging. Wieder in meinem Zimmer schaute ich mich auch dort um, meine Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und so betrachtete ich mein tristes Zimmer und wurde erneut melancholisch. Ich zog die Schuhe und mein T-Shirt aus, sah in den Spiegel und sah etwas Unbedeutendes: mich. Ich legte meine Hand auf den Spiegel, er war glatt und ganz kalt. Ich betrachtete mich weiter und legte die andere Hand auf meine Brust. Im Gegensatz zum Spiegel war ich ganz warm. "Möchte ich überhaupt jemand anderes sein?" Ich schloss die Augen und dachte laut "Ich weiß wieder nicht was ich eigentlich will."
Seit dem Tag, an dem ich diese Sternschnuppe sah, wurde ich immer wieder von Kopfschmerzen geplagt und versuchte stressigen Situationen aus dem Weg zu gehen. Ich konnte noch schlechter schlafen als zuvor und mich begleitete stets eine unangenehme Appetitlosigkeit. Immer wenn ich Stress ausgesetzt war, bekam ich Nasenbluten und Kreislaufprobleme. Ich fehlte häufiger in der Schule und war "zu Hause", an einem Ort, an dem ich gar nicht sein wollte. Die meiste Zeit lag ich gedankenlos in meinem Bett und starte die Decke an, das Einzige, woran ich dachte war, wie ich wohl am besten aus diesem tristen Alltag entkommen könnte.
Ich würde gerne in Richtung Unendlichkeit, an einen Ort, an dem die Sterne weiterleben können und nicht erlöschen, ich denk nicht lange nach und spaziere in den Nächten meiner Träume durch einen Dschungel voller Hindernisse, aber ich bin in meinen Träumen der Protagonist, der alles kann und alles mit Leichtigkeit überwindet. Ich reise durch Zeit und Raum, bis mich dieser Traum alleine zurücklasst und die Nacht wieder über mich kommt. Ich hoffe, dass meine Zukunft bald kommen wird und ich nicht länger warten muss. Ich warte auf die Person, die mir die Hand ausstreckt und mir neue Wege zeigt. Doch dann verbringe ich meine Zeit doch lieber in diesem kupfernen Vogelkäfig, selbst wenn dort die Tür offen stände, hätte ich weder antrieb noch einen Grund diesen zu verlassen. Man sollte nicht immer darauf warten gerettet zu werden, aber mir fehlt diese Kraft, Dinge umzusetzen. Bin ich verflucht oder überdramatisiere ich bloß? Immer wenn ich versuche etwas zu ändern, werden mir noch mehr Steine in den Weg gelegt, wieso also versuchen? Meine Gedanken sind so wirr und widersprechen sich, ich will einfach nur noch die Zeit anhalten und sie nicht mehr weiter laufen lassen.
Ich entschied mich, einmal etwas zu versuchen. Meine jetzige Familie beachtet mich nicht, aber was ist mit meiner wirklichen, realen Familie? Es war nie ein Geheimnis, dass ich adoptiert bin und es war immer ein offenes Thema, dementsprechend wäre es sicher auch nicht schwer diese ausfindig zu machen, leichter getan als gedacht, denn nach ein paar Recherchen saß ich im Zug Richtung hoffentlich anderes Leben. Ich dachte, wenn ich einen Ort finde, an dem ich willkommen bin, werde ich sicher meine Ruhe finden. Ich pakte alles Nötige ein, ich hatte nämlich vor, nicht wieder zurückzukommen. Auf der Fahrt spielte ich alle möglichen Szenarien durch und war im Endeffekt nervöser, als ich dachte. Die Fahrt fühlte sich deutlich länger an, als sie eigentlich war und ich fragte mich, warum ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin. In einer mir fremden Stadt mit dem Blick weitgehend zu Boden gerichtet, machte ich mich auf die Suche, meine Mutter zu finden. Das Problem ist jedoch das ich nicht weiß, wie sie aussieht. Wie wird sie wohl reagieren? Gedankenverloren lief ich durch eine Wohnsiedlung, als eine Frau Arm in Arm mit einem Mann an mir vorbeilief. Ich blieb kurz stehen und schaute Ihnen nach. Es war so, als hätte mich ein kleiner Impuls aus meinen Gedanken gerissen.
"Ayumi?",rief ich laut hinterher und hoffte auf eine Reaktion, es schien so, als würde die Zeit stillstehen denn sie liefen nicht weiter und die Frau drehte sich verwundert zu mir um. Perplex richtete ich meinen Blick immer wieder abwechselnd auf die Frau und den Mann. "Bist du Ayumi?" Der Mann und die Frau schauten sich verwundert an und tuschelten ein wenig, dann machte die Frau einen schritt nach vorne. "Ja, die bin ich, kennen wir uns?" Für einen Augenblick fand ich keine Worte, ich wollte so viel sagen, doch konnte es nicht. Nervös stotterte ich "I...ich bin Hibiko, dein S..." "Ich habe keinen Sohn", brachte eine harsche, laute Stimme hervor. Ich schreckte zurück, die Frau, die gerade noch so entspannt und locker wirkte, sah mich nun total angespannt und wütend an, sie drehte sich um, nahm den Mann an die Hand und ging mit schnellen Schritten, um die nächste Ecke. Noch vollkommen überrascht stand ich dort wie versteinert, nach ein paar Sekunden konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen. Was für eine Reaktion habe ich erwartet? Natürlich bin ich hier nicht willkommen, die Reaktion war zu erwarten, was dachte ich mir hierbei überhaupt? Als ich gerade wieder losgehen wollte, kam die Frau wieder auf mich zu, dieses Mal ohne den Mann. Sie drückt mir einen Zettel in die Hand "Das ist die Adresse von deinem Vater, sein Name ist Amida, erwarte keine bessere Reaktion. Ich möchte dich nicht mehr wieder sehen, meine Vergangenheit habe ich hinter mir gelassen". Danach kehrte sie mir wieder den Rücken zu, ich griff mir ans Herz und ging an ihr vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Die Abendsonne tauchte den Weg erneut in ein Orange und es wurde still um mich herum.
Die Nacht verbrachte ich an einem naheliegenden Flussufer, ich legte mich nieder und streckte meine Hand nach den Sternen aus, doch natürlich waren sie zu weit entfernt. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt zu meinem Vater gehen möchte, was würde mir das bringen? Genau, nichts. Aber andererseits habe ich weder etwas zu tun, noch einen Ort, an dem ich willkommen bin, also habe ich so oder so nichts zu verlieren, doch bevor ich weiter nachdenken konnte, brachen die Wolken hinein und überraschen die Nacht mit einem kühlen Schauer.
Pitschnass stand ich nun, wie ein verlorenes Kätzchen unter einer Brücke, grübelnd, wohin ich nun gehen sollte. Zurück nach "Hause", zu meinem wirklichen Vater, oder sollte ich doch eher einen komplett eigenen Weg einschlagen,weit weg von allem. Im Endeffekt wandelte ich mehrere Wochen lang umher, auf der Suche nach Neuem, denkend über meine alternativen. Viele Dinge gingen mir in der Zeit durch den Kopf, ebenso das Zitat "Mann merkt erst was einem bedeutend, wenn man dies nicht mehr hat", vielleicht machen sich meine "Eltern" ja doch sorgen um mich, sitzen verzweifelnd zu Hause und warten, dass ich wiederkomme, immerhin haben wir vor vielen Jahren noch so sorglos zusammengelebt. So stieg ich nun also in den nächsten Zug Richtung Heimat. Nachmittags angekommen, schlurfte ich Richtung altbekanntem Vogelkäfig. Unsere Umgebung war generell sehr ruhig und menschenleer, auch an diesem Tag sah ich keine Menschen auf den Straßen. Als langsam die Sonne unterging, kam ich am Haus an. Die Lichter waren aus, kein Geräusch zu vernehmen, keiner zu Hause.
Da ich eh nichts machen konnte und keine andere Wahl hatte, versuchte ich an einem der Fenster mein Glück, man kann ja immer mal Vergessen eines zu schließen, jedoch kein Erfolg. Mühsam kletterte ich auf das Dach des Hauses, mit vorsichtigen Tritten näherte ich mich meinem Fenster, die Laternen auf den Straßen gingen bereits an und das Licht reflektierte sich in den Scheiben. Was ein Hindurchsehen nur schwer ermöglichte, das es bereits dunkel wurde half auch nicht sonderlich weiter. Mit angestrengtem Blick versuchte ich im Zimmer etwas zu erkennen. Auf meinen Blick konzentriert bekam ich wieder Kopfschmerzen. Als ich langsam etwas erkennen konnte, fiel ich quasi in ein dunkles Loch, alles was ich erblickte war gähnende Leere. Wer räumt denn bitte das komplette Zimmer seines Sohnes aus, wenn man damit hofft, dass er zurückkommt? Letzten Endes hatte ich wohl doch recht mit der Annahme, das ich nicht mehr gebraucht werde in diesem Haus. Erschüttert tastete ich mit meinem Fuß langsam den Weg Richtung Abstieg, als ich jedoch plötzlich etwas hörte, rutschte ich aus, ein Ziegel löste sich und schon lag ich im nächsten Gebüsch.
"Hast du das gehört?" Vernahm ich von einer altbekannten weiblichen Stimme. "Das war sicher nur eine Katze." Entgegnete eine raue Männerstimme. Meine "Eltern". "Sicher? Nicht das sich Hibiko noch hier herumtreibt.", meinte meine Mutter mit leisen Worten."Der kommt sicher nicht mehr zurück.", sagte er, um meine "Mutter" zu beruhigen. "Ja – besser wäre es.", sagte mein Bruder spöttisch. Empört von den Worten von Ichiro, weist Yayoi, meine Adoptivmutter ihn zurecht. "Ichiro! Sag doch so was nicht über deinen großen Bruder.", beleidigt machte er daraufhin schnippische Bemerkung: "Das war doch gar nicht mein richtiger Bruder! Der kann mir gestohlen bleiben." Das Gespräch verstummte für einige Sekunden. "Nun ja, das ist für alle besser so.", meinte Yoshiyuki zu seiner Frau. Hibiko, das habe ich lange nicht mehr gehört, ... meinen Namen.
Als die Geräusche langsam verschwanden, schlich ich mich langsam hinfort.
In der Dunkelheit war ich kaum zu erkennen, nur meine blauen Augen ließen sich in dieser Nacht erahnen.
Ich lief die ganze Nacht umher, sortierte meine Gedanken, überlegte meine nächsten Schritte.
Meine Familie will mich nicht sehen, meine Mutter auch nicht ... Ich könnte zu meinem Vater oder mein Leben alleine weiter gehen. Beides hat sicherlich seine Vor- und Nachteile. Letzten Endes beschloss ich mich dazu, meinem Vater einen Besuch abzustatten. Den Zettel, den ich von meiner Mutter bekommen habe, ist mittlerweile schon ganz dreckig und zerknickt. Ein Wunder, das man darauf noch etwas erkennen konnte. So machte ich mich also auf dem Weg. Im Zug betrachtete ich mich wieder in der Scheibe. Berührte mein kaltes Spiegelbild und krallte meine andere Hand in mein Knie. Ist das alles Fiktion, ... oder doch die Realität? Ich fühle mich wie in einem Abgrund gefangen. Ich sehe die Tage an mir vorbeiziehen, ohne dass sich etwas ändert. Meine Gedanken verblassen immer mehr. Denke ich wirklich, dass es besser werden kann? Die Nächte kommen, die Tage gehen ... Wie immer schwirren mir so viele Dinge im Kopf umher. Ehe ich mich versah, fühlt es sich so an, als würde ich Schweben, der Zug hebt ab, die Sitze lockern sich und alles zerfällt in ihre Einzelteile. Die Lila Sternschnuppe zischt an mir vorbei und ich fühle mich so, als würden mir Flügel wachsen. In rasender Geschwindigkeit weht mir der Wind durch da Haar, unstoppbar fliege ich Richtung Himmel, durchtauche eine Wolke und tränkte mich in fluffig weichen Wassertropfen. Der Mundschutz weht hinfort und lauthals lachend fliege ich in Richtung Galaxie, Ich tauche in die Atmosphäre und verstumme. Langsam schwebe in im zeitlosen Raum, betrachte die Welt unter meinen Füßen schmunzelnd mit dem Gedanken meine Ziele erreichen zu können. Alles ist so ruhig und wunderschön. Ich schließe meine Augen, drehe mich im Kreis und Genieße diesen Augenblick. Bis mich plötzlich etwas stoppte. Ich trieb bereits so lange im All, mich umgab nur noch ein schwarzer Raum voller glühenden Punkten, von Planeten keine Spur, ich drehe mich und sehe erneut eine Scheibe.
Dort sehe ich mich. Ein monotoner Blick starrt mich an, das Spiegelbild zeigte auf mich und schüttelte den Kopf, nahm den Mundschutz ab und sagte wortlos etwas zu mir, er drehte sich um, lief hinfort und verschwand. Ehe ich mich versah, spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter, öffnete meine Augen und blickte der Realität ins Gesicht. Wieder auf dem Boden der Tatsachen wurde ich höflich darum gebeten den Zug zu verlassen: Endhaltestelle.
Erneut machte ich mich auf den Weg in eine Fremde Stadt, um mein Glück zu finden. Warum versuche ich das nochmal? Ich werde doch eh nur enttäuscht. Ich könnte auch einfach mit der Unwissenheit statt mit der Enttäuschung leben. Doch so gehe ich wieder leise Schritte, eine fremde Stadt, eine fremde Umgebung. Die ganzen lauten Stimmen der Menschen um mich herum blende ich aus, fühle mich wie durch Wellen aus Menschen getrieben meinen Weg gehend. So gehe ich weiter, bis mich die lauten Hupen und Bremsen der Autos des Verkehrs aus den Gedanken reißen. Ein paar enge Straßen weiter, lösen sich die Menschenmassen langsam, bis wieder allmählich Ruhe einkehrt. Ohne Orientierung suche ich den Namen auf dem Zettel, das mit den Hausnummern ist immer so eine Sache. Bereits relativ nah am Stadtrand klappere ich die letzten paar Häuser ab, bis ich dann endlich am äußersten Haus der Straße den Namen Amida stehen sehe. Unsicher, ob ich dies nun wirklich tun soll, gehe ich schwankend auf die Klingel zu, doch bevor ich diese erreiche höre ich eine Stimme: "Hibiko, ich habe dich erwartet, komm doch bitte herein." Perplex wendet sich mein zuvor zum Boden gerichteter Blick direkt zu den Augen des Mannes, der im Eingang steht. Langsam öffne ich das kleine Tor und sah mich zögernd das erste Mal genauer um. Viele gut gepflegte Blumen zierten den Garten, auch Bienen, Schmetterlinge und Hummeln erfreuten sich daran. Wieder abschweifend stehe ich dort für ein paar Minuten, bis ich wieder zur Besinnung kam und langsam auf den Mann zugehe.
Der Raum, den ich betrat, löste solch eine innere Ruhe in mir aus, in der ich mich geborgen fühlte. Nun nahm ich jedoch aller erst den Mann unter Betracht. Ungefähr 35 Jahre würde ich ihn schätzen, ein paar weiße Haare durchpflügen bereits sein schwarzes dünnes Haar. Ein sowohl ernster, als auch sanftmütiger Gesichtsausdruck wird von einer alten Brille untermalt. Bevor ich etwas sagen kann, werde ich jedoch durch eine Handbewegung gestoppt. "Das letzte Mal, das ich mit deiner Mutter Kontakt hatte, ist bereits viele, viele Jahre her, 17 Jahre um genau zu sein." Mit einem wehmütigen Blick greift er nach meiner Schulter. "Das ich dich jemals sehen kann, das habe ich nicht einmal zu träumen gewagt."Er bat mich sich zu setzen, was ich darauf hin natürlich tat, jedoch immer noch ohne ein Wort gesagt zu haben. "Du kommst sicher von weit her, hätte ich dich gesehen, hätte ich dich nämlich sicher erkannt. Dieses Schwarze strubbelige Haar und diese kräftig blauen Augen ..." Seine Worten verstummten einen Moment, bis er weiter redete. "Du hast sicher viele Fragen, die ich dir leider nicht beantworten werde, stattdessen werde ich dir etwas erzählen."
"Deine Mutter Ayumi und ich kannten uns bereits aus Kindertagen, nichts schien uns trennen zu können, egal ob Kindergarten oder Schule, wir waren wirklich immer zusammen. Als wir jedoch auf der Oberschule waren, heiratete ihre Mutter einen reichen Bankkaufmann worauf sich ihre Lebenssituation von den einen auf den anderen Tag änderte. Sie sollte auf eine Privatschule, neuer Wohnort, die üblichen Komplikationen. Das größte Problem war jedoch, dass ihre Familie der Meinung war, dass solch ein armer Junge nicht der richtige Umgang für sie sei. Anfangs haben wir uns gewehrt, uns heimlich getroffen. Sie ist wirklich oft ausgebrochen. Ihre Eltern ließen sie nach einigen Wochen nicht mehr alleine zur Schule gehen, doch selbst dann hat sie es immer noch geschafft eine Lücke zu finden und zu entkommen. Die letzte Aussicht, die ihre Eltern sahen, war also Privatunterricht. Trotz alledem schlich ich mich immer wieder zu ihrem Fenster, wo wir heimlich reden konnten, bis auch dies irgendwann herauskam ... Als ich dann eines Abends wieder an ihr Fenster kam und sie schon freudestrahlend auf mich zukam, sprang die Tür auf und ihre Mutter sah uns. Sie zog Ayumi an den Haaren aus dem Zimmer, ich hörte nur noch Schreie, Gefluche und Wimmern. Danach war ich eine lange Zeit nicht mehr da. Erst ungefähr ein Jahr später traf ich sie zufällig bei einem Schulausflug. Sie war immer noch so wunderschön wie immer. Wir setzten uns das Wochenende ab und hatten eine wirklich schöne Zeit. So schön und unbeschreiblich. Wir hatten uns wirklich viel zu erzählen und sind zu dem Entschluss gekommen, einfach zusammen abzuhauen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Wir machten einen Zeitpunkt aus an dem wir beschlossen sie von ihren Ketten zu befreien. So weit hat das auch geklappt, am begesagten Tag, zur abgemachten Uhrzeit schlichen wir uns zusammen davon. Wir waren bereits auf dem Weg zum nächsten Bahnhof um endlich in Richtung neues Leben zu fahren, ohne die Regeln, Bestimmungen und Grenzen. Doch auch dort wurden uns wieder Steine in den Weg gelegt.
Das Schicksal meinte es wohl einfach nicht gut mit uns. Als wir auch dort erneut von ihren Eltern abgefangen wurden, habe ich es aufgegeben. Ich war so Feige und mein Durchhaltevermögen hat einfach nicht ausgereicht. Ich habe sie nur sehr Selten danach noch gesehen und dort schien sie wie ein komplett anderer Mensch zu sein. Als hätten ihre Eltern sie umgepolt. Viele Jahre verstrichen, in denen ich nie wieder etwas von ihr gehört habe. Ich fing an einem langweiligen Bürojob nachzugehen, lebte gefühlt den gleichen Tag immer wieder erneut. Ich hatte längst gedacht, der rote Faden sei bereits gekappt, doch sah ich sie eines Tages bei uns im Büro, voller Freude auf sie zugehend wies sie mich ab, erzählte mir an einem Freien Nachmittag ihre Geschichte und wie es ihr ergangen sei. Sie ist längst über mich hinweg, meinte sie. Sie steckte mir einen Brief zu, welchen ich doch bitte in einem Monat lesen sollte. Als hätte ich es gewusst, war sie nach einem Monat wie vom Erdboden verschluckt. Als ich den Brief las brach ich in Tränen aus, kündigte meinen Job und lebte lange Zeit in den Tag hinein ohne etwas zu tun, bis ich mich dem Lieben Gott und der Probleme anderer widmete. Leute verändern sich, weißt du. Das ist unumgänglich, man muss sich dieser Bestimmung einfach stellen. Somit habe ich also meine komplette Vergangenheit abgeschlossen und möchte auch dich bitten, wieder zu gehen. Ich bin nicht mehr der, der ich einst war. Deswegen kann ich leider keine Verantwortung für dich übernehmen."
Von seinen Worten und der Geschichte geblendet, drückt mir Amida den Brief in die Hand und bittet mich zu gehen. "Ich möchte deine Stimme bitte nicht hören, das würde in mir nur alte Wunden wieder aufreißen". Ohne zurückzuschauen, schließt der Mann, mein Vater, die Tür hinter sich und ich werde erneut draußen stehen gelassen.
Entgeistert steckte ich den Brief in meine Jackentasche, gerade ist nicht der Moment ihn zu lesen, da würde ich zu viele Emotionen hineinlegen. Ich machte mich wieder auf den Weg zu dem Ort, von dem ich kam. Klar, hier könnte ich auch bleiben, aber in meiner alten Heimat kenne ich mich wenigstens au, generell: wie soll ich nun weiter machen? Nach "Hause" kann ich nicht, dort bin ich mir selber fremd. Ein kleiner Windzug kitzelte meine Nase, welche ich darauf etwas rümpfte. Da bemerkte ich, dass ich auf einmal Nasenbluten bekam, meine Beine wurden etwas zittrig und ich musste mich erstmal kurz hinsetzen. Einen kurzen Moment achte ich auf die wenigen Leute in der Umgebung, welche mich allesamt ignorierten. Verkorkste Gesellschaft. Noch etwas wackelig stemme ich wieder auf und stolpere gegen einen Laternenmast. Ich wartete noch ein paar Minuten und machte mich wieder auf den Weg.
Es sind jetzt bereits ein paar Monate vergangen. Ich halte mich gerade noch so über Wasser und jobbe in einer Tankstelle als Teilzeitkraft. Meine Nächte verbringe ich an verschiedenen Orten, unter der Brücke, heimlich in fremden Gartenhäuschen und selten auch mal in einem Internetcafé.
Zur Schule gehe ich nicht mehr, da ich dies einfach nicht mehr als nötig erachte. Eigentlich habe ich momentan nichts im Leben, das mir Freude bereitet. Nicht so, als wäre das vor einem Jahr anders gewesen, aber nun habe ich absolut nichts. Ich lebe nur noch, weil ich atme. Nach einem stressigen Arbeitstag laufe ich spät Abends auf einen Hügel in der Nähe, welcher eigentlich von Zäunen und Bändern abgesperrt ist, da es gefährlich ist, diesen zu betreten. Das ist mir allerdings ganz recht, meine Ruhe zu haben. Auf der Arbeit habe ich eh genug Menschen um mich herum, ziemlich dumme auch noch dazu. So schlich ich mich nun zwischen den Zäunen hindurch und erhaschte den lohnenswerten Anblick der Stadt bei Nacht. Hinter dem Hügel lag nur Wald, man sah regelrecht den Vergleich des Himmels. Über der Stadt waren kaum Sterne zu sehen, über dem Wald dafür umso mehr. Mit etwas Kopfschmerzen setze ich mich auf das leicht feuchte Gras und halte kurz inne. Der Schwindel und das Nasenbluten wurden seitdem nicht besser, mich zieren seitdem immer mehr blaue Flecken. Ich erinnerte mich wieder an den Brief in meiner Tasche und zog den mitgenommenen, etwas zerknitterten Umschlag hervor. "Wahre Stärke beweist nicht Standhaftigkeit bei Dingen, die man ergreift und nicht loslässt, sondern Dinge, die man treiben sieht, obwohl man sie hätte festbinden können. Manchmal muss man Dinge geschehen lassen damit diese erblühen, selbst wenn es einen selbst welken lässt." Das ist alles? Ich hätte mit allem gerechnet aber nicht mit solch einem Mist. Mürrisch zerknüllte ich den zettel und stopfte ihn wieder in die Jackentasche. Ich habe nichts im Leben, also auch nichts zum Festhalten oder loslassen. Ja – welch egoistische Denkweise.
Ich verbrachte noch ein paar Stunden auf dem Hügel, die Zeit schien mir so endlos, zäh wie Kaugummi. Der Himmel färbte sich langsam in einen Lilaton und eine leichte Brise ließ die Vögel in den Bäumen erklingen. Apathisch stand ich auf und lief an den Rand des Hügels, mit leerem Blick sah ich auf den Boden der Tatsachen. Ich bin alleine. Ich habe nichts. Ich habe keinen Grund warum ich mich bemühen sollte. Dann hob leicht das linke Bein und möchte noch einen weiteren Schritt tun. Meine Schuhe verloren leicht den Halt auf dem feuchten Gras. Innerhalb weniger Millisekunden bemerkte ich, was ich da gerade tue und es war mir gleich, wenn nicht sogar recht, deswegen wehrte ich mich nicht... Doch dann hörte ich einen lauten Aufschrei und ein ruckartiges Ziehen nach hinten. "Pass auf! Was tust du denn da?! Das ist gefährlich!". Perplex stolper ich nach hinten und falle zu Boden. Mit einem etwas schmerzerfüllten blick schaue ich über mich. "W... was?"
Kommentare (2)
Werde demnächst auch mal was von mir posten.