Das liebe Mädchen auf dem
Cover, das sich da mit fliegenden Haaren und einem träumerischen Lächeln dem Zuschauer entgegenbeugt und einen auf Marylin Monroe macht, ist
Midori Nagawa. Die spezielle Atmosphäre, die dieses Bild ausstrahlt, reicht bis hier auf meinen Monitor und steht für ein Versprechen, das nicht gehalten wird. Mal wieder.
Kennt man ja. So groß ist die Enttäuschung jetzt aber auch wieder nicht, denn der Anime ist trotzdem sehenswert, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Jedenfalls aus Gründen, die nicht in der Erotik liegen. Das Cover ist also künstlerisch überhöht; die wahre Midori ist keineswegs die Verkörperung von Sexappeal, sondern eher ein etwas verhuschtes Wesen, wie auch die
Screenshots zeigen. Ganz nach dem Sprichwort "stille Wasser sind tief".
Der Protagonist dieses kleinen Hentais,
Kei Ogata, wirkt wie der typische menschenscheue und wortkarge Loser, ist aber schwer traumatisiert, wie die kleinen Vergewaltigungsszenen der Flashbacks zeigen. Im zweiten Teil der OVA wird sich herausstellen, daß wir in diesen Flashbacks Bekanntschaft mit seinem Vater machen, der eher von der direkten, handgreiflichen Sorte ist. Die Bilder dieses Vaters bekommt er nicht mehr aus dem Kopf, und er kämpft ständig dagegen an, daß diese Bilder nicht die Herrschaft über ihn erlangen und er kämpft gegen die latente Besessenheit, diese prägenden Erfahrungen an den Mädchen, die er kennenlernt, auszuleben. Das erklärt auch die Szene gegen Ende der 1. OVA. Desweiteren ist er geschlagen mit einer extrem hyperaktiven, maulenden, nervigen
kleinen Schwester, wo keiner weiß, wie sie zu dieser abscheulichen Frisur gekommen ist. Chemo vielleicht?
Der Rest des Casts ist einigermaßen normal, abgesehen von
Yumi, der Quotensadistin, die ihre Stellung an der Schule dazu missbraucht, irgendwelche Domina-Spielchen abzuziehen. Sie leitet die IT-Abteilung und erpresst vorwitzige Mitschüler, die versucht haben, sich ordnungswidrig einzuloggen und im Netzwerk rumzupfuschen. So ganz logisch und wasserdicht ist die Argumentationskette aber nicht: wenn sie Kei beschuldigt, er hätte sich illegal Zutritt zum System verschafft, weil der Informatik-Lehrer so doof ist, als Passwort den eigenen Namen zu verwenden – woher weiß sie das und hätte sie nicht selber die Schulnoten manipulieren können? Aber egal. Vielleicht ist Kei nur gerade danach, sich erniedrigen zu lassen, es sei ihm gegönnt. Und der Zuschauer hat eine Sexszene mehr in diesem nicht gerade überreichlich mit Erotik gesegneten Hentai.
"Human relationships are such a pain in the ass", wird einem recht früh in der ersten Folge eröffnet. Dieses in der Geschichte des Anime nicht gerade unbekannte Statement liefert den Grund, warum Kei sich Nacht für Nacht in einem Online-Chat herumtreibt als »A.W.« und dort eine verwandte Seele findet, die sich »Eve« nennt und die nicht unschwer als Midori zu identifizieren ist, da sie sich sehr freimütig über ihre Schul- und Alltagserlebnisse äußert. Nostalgische Gefühle werden wach angesichts dieser Errungenschaften der
modernen Technik, und man fühlt sich selbst Jahrzehnte zurückversetzt in eine Zeit, als man wie hier dabei zuschauen konnte, wie beim Runterladen Bit für Bit reinschneit. Mit dem Unterschied, daß sich damals die Bilder nicht "entpixelt" haben wie hier, sondern langsam zeilenweise aufgebaut. Von oben nach unten oder von unten nach oben, je nach Dateityp. Genauso wie Kei ist auch Midori nicht sonderlich erschrocken, wenn es darum geht, sich anonym mitzuteilen. Was man eindrucksvoll sehen kann an den doch recht
freizügigen Bildern, die sie ihm zukommen lässt.
Der wahre Star des Animes aber ist die Musik. Die gibt sich sehr minimalistisch und "psycho", setzt also einen Gegenakzent zu dem, was grade zu sehen ist. Im Ungefähren mäandernd und latent verstörend. Auch bei sexuellen Aktivitäten, übrigens. Erst als sich ein Happy End andeutet, folgt dem auch die Musik und sie bewegt sich weg von den bisherigen bitonalen Tendenzen hin zu tonaleren Gefilden, am Wohlgefühl der Liebe entlang. Richtig gelesen: Liebe. Und Geständnis. Auch sowas gibt es in Hentais.
Was es sonst noch in Hentais gibt, ist Sex. Meistens jedenfalls. Der ist hier ganz ordentlich, allerdings inklusive einer Vergewaltigung. Lasst euch dabei von den Untertiteln nicht irritieren! Die geben nicht wieder, was das Mädchen sagt, sondern das, was der Kerl hören will. Ist also auch hier wie mit der Musik.
Auch das ist Teil von Keis Kampf mit seinen Dämonen der Vergangenheit, die sich – angeblich – in seinen Genen festgesetzt haben. Keine Ahnung, wie das in der Visual Novel ist; hier jedenfalls bekommt die Sache ein rundes Ende, Erlösung durch die Jungfrau mit dem reinen Herzen – ein Topos, der schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hat, aber immer wieder greift.
Was auch positiv auffällt, sind die Körpermerkmale der südlicheren Breiten. Die sind angenehm normal ausgefallen und liegen im Bereich dessen, was man in der echten Welt im allgemeinen so zu sehen bekommt. Darüber hinaus geht man hier unzensiert zur Sache. Der Sex ist zwar nicht ganz so idiotisch wie sonst, aber mit den üblichen Sprüchen versehen, die einem so zuverlässig auf den Keks gehen.
Was das Künstlerische angeht, ist das gemessem am Erscheinungsjahr sehr ordentlich und kann sowohl bei den Hintergründen als auch beim Charakterdesign absolut mit normalen Animes mithalten. Stimmungsvolle, detaillierte Landschaften konkurrieren mit abwechslungsreichen und tatsächlich mal glaubwürdigen Charakteren.
Insgesamt eine schöne, durchaus tiefer gehende Story, die schlüssig ist und die den Schwerpunkt auf die Psychologie der Charaktere setzt. Teils grüblerisch, teils düster und Weltschmerz verströmend, wie es auch bei etlichen anderen Animes um die Jahrhundertwende so der Fall ist. Eines jedoch wird sich mir wohl nie erschließen: Wie lange braucht es eigentlich, bis zwei Liebende sich nicht mehr bloß mit Nachnamen anreden? Einmal einvernehmlich ficken reicht dafür anscheinend nicht …
[Edit:]
Best Girl:
Eri. Ein taffes Mädchen mit Herz
und Verstand.
Beitrag wurde zuletzt am 25.04.2024 07:58 geändert.