Heiliger Bimbam, was war denn das für eine kranke Scheiße, die ich da eben gesehen hab?
Da denkt man, man hat mit
FLCL,
Panty & Stocking und
Cat Soup Theater die heilige Dreifaltigkeit des hirnverbrannten Schwachsinns ultimativ hinter sich, dann kommt da mit einem Mal
Dead Leaves um die Ecke und setzt all dem die Krone auf. Das, was einem hier rotzfrech auf die Netzhaut geballert wird, kann man nur schwer in Worte fassen und auch erstmal nicht vernünftig sortieren.
Dead Leaves ist in erster Linie eine durchgängige Verhöhnung des guten Geschmacks und ein Herumtrampeln auf Tabus. Darin ähnelt dieser Anime in gewisser Weise
South Park, vor allem, was den Zynismus und das Spiel mit Klischees angeht, aber auch den Cat-Soup-Serien, die ähnlich sinnlos und empathiefrei nihilistische Gewaltorgien bizarrster Art entfesseln. Das geht also nicht nur gegen den guten Geschmack und sonstigen Anstand, sondern torpediert auch liebgewonnene Weltbilder, moralische Werte und gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen, die kurz mal eben auf den Kopf gestellt werden. Denn so ganz sinnlos und
random, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist das ganze dann doch wieder nicht.
Die ersten Minuten fühlen sich an, als habe hier nicht der Protagonist von FLCL die Bassgitarre an den Kopf gekriegt, sondern der Zuschauer selber; in dem wirren Treiben gehen Zynismus, Parodie und Satire Hand in Hand und kreieren eine desaströse Welt in überraschenden und befremdlichen Wendungen. Als Beispiel der Beginn:
Zwei Personen finden sich nackt und ohne jede Erinnerung an früher am Rande einer Stadt wieder, und da sie nicht mal ihren eigenen Namen kennen, nennt er sie kurzerhand "Pandy" (wegen des markanten Flecks um eines ihrer Augen, was leicht nach Panda ausschaut) und sie ihn "Retro" (da er anstelle eines Kopfes einen Fernseher älteren Datums hat).
Beide stellen fest, daß sie was zum Anziehen brauchen, daher begeben sie sich in die Stadt und marodieren durch die Straßen. Die Passanten sind wenig begeistert davon, daß das Duo sich alles unter den Nagel reißt, was ihnen nützlich scheint, und schon bald schreitet die Obrigkeit ein, liefert sich eine wilde Schießerei mit den beiden, nimmt sie fest, und im Schnellverfahren verurteilt landen die beiden in einer speziellen Verwahrungsanstalt namens »Dead Leaves« auf dem Mond – bzw. den kümmerlichen Resten dessen, was einstmals ein Mond war. Also. Ich hab's jetzt nicht gemessen – aber diese Vorkommnisse, aus denen ein normaler Anime zwei bis drei Folgen macht, laufen hier in nicht mal einer Minute ab. Soviel zum Pacing.
Auch wenn hartnäckig Gegenteiliges behauptet wird: es gibt sowas wie eine Story. Selbstverständlich mit Endgegner-Bösewicht, aber auch mit Kindheitserinnerungen (das darf ja in keinem anständigen Anime fehlen!) an ein Bilderbuch über eine Raupe, die sich in der Blätterwelt des Baumes immer höher frisst. Und wie in jedem herkömmlichen Anime ist auch dies eine Parabel, eine lehrreiche Fabel fürs ganze Leben, und gerade die "Raupe"-Metapher wird hier weidlich ausgeschlachtet, in allen denkbaren Formen und Farben.
Künstlerisch
(*hüstel*) gesehen pflegt Production I.G. hier einen bemerkenswert eckigen, kantigen und vor allem rotzigen Stil, der sich wohl an amerikanischen Vorbildern orientiert. Alles ist sehr bunt, mit starken Kontrasten, aber ein entschieden
männliches bunt, nicht dieses Barbie-Pastell. Die Actionsequenzen sind immer auf volle Kanne, wirken ruckelig, sind aber dennoch gut animiert, man bekommt es bei diesem Tempo, das hier an den Tag gelegt wird, nur nicht mit, sondern erst
frame by frame. Der Humor ist mindestens genauso kantig, sehr trocken und vor allem sehr schlagkräftig.
Aber zunächst heißt es "Gehe in das Gefängnis. Gehe nicht über Los. Ziehe nicht 4000 Mark ein". Es ist jedenfalls müßig, darüber zu spekulieren, welche Drogen dem Studio von Production I.G. zur Verfügung standen. Was in diesem angeblichen Gefängnis abgeht, ist absolut
weird, ist Irrsinn einer weit entrückten Bewusstseinsstufe. Die Freakshow wird zwar hilfsweise erklärt mit irgendwelchen misslungenen Klon-Experimenten, ist letztlich aber eh wurscht.
Der Anime kennt im Grunde nur eine Lautstärke, nämlich vollstoff, genau wie das Tempo nur eine Richtung kennt: full power. Immer wenn man denkt, irrsinniger geht's wohl nicht mehr, legt die Geschichte immer noch einen Zacken zu. Eine Type mit einem
Kegelbohrer als Penis? Aber klar doch! Ein Fötus, der aus der Gebärmutter heraus mit großem Kaliber um sich ballert? Wo ist das Problem!? Ständig bekommt man natürlich auch Dialoge vorgesetzt mit dieser bestechenden Logik: "Dein riesiger Schwanz hat uns befreit, also wurdest du geboren, um uns zu führen!"
Musikalisch schwankt das ganze zwischen
laut und
sehr laut. Und erinnert immer mal wieder an bestimmte Stücke von Nina Hagen. Wobei ganz der parodistischen Linie folgend auch die Klassik nicht verschont wird. Was man da so an Einsprengseln hört, sind in der Folge ihres Auftretens: Das Trinklied aus Verdis Oper »La Traviata«, die Habanera aus George Bizets »Carmen« sowie der volkstümliche italienische Schlager »
Funiculì, Funiculà«.
Schlussbetrachtung:
Dead Leaves ist ein Anime, der sich jenseits allen guten Geschmacks bewegt. Der dessen Grenzen stilvoll, genüsslich, konsequent pulverisiert. Punk in animierter Form. Ein Juwel in einem Haufen verrotteter Scheiße. Mit dem Unterschied, daß hier der Anime nicht das Juwel ist, sondern die Scheiße. Wer sich diesem Werk uninformiert und arglos nähert und irgendwas in bekannten und herkömmlichen Kategorien erwartet, bekommt hier den Stinkefinger gezeigt. »Ist er zu stark, bist du zu schwach.«
Zum Abkühlen und wieder Runterkommen wäre ein best-of-Kaminfeuer vielleicht nicht die schlechteste Idee.
Den Rat "
am besten mit Alkohol genießen" kann ich nicht gutheißen, im Gegenteil: wer sich hier die Birne vollknallt, wird von dem Highspeed-Irrsinn, der hier abgebrannt wird, nicht das mindeste mitkriegen. Und das wär doch echt schade, wenn man das stumme Entsetzen von Pandy nicht mehr nachvollziehen kann, wenn von dem abgetrennten Bohrkopf etwas
Weißlich-Klebriges heruntertropft und Fäden zieht.
Beitrag wurde zuletzt am 25.06.2021 22:42 geändert.
Kommentare
weswegen das auch ein grund ist, dass ich in diesem anime die englische synchro vorziehe^^
und eins muss man sagen: extrem geschmacklos, schnell, total verrückt, und "krasses" farbenspiel
wer auf sowas steht, ist hier klar bedient, wobei ich sagen muss, dass die story hier äusserst interessant ist
leute die überhaupt nicht auf humor à la slapstick-extrem stehen, oder generell als cartoon-hasser gelten, sei die eine ova-folge abzuraten
alle anderen können zumindest hineinschnuppern (tipp: nicht im dunklen sehen, un mindestens 4m abstand vom bildschirm)