Schon immer haben Menschen in Zeiten großer, einschneidender Veränderungen und Katastrophen Erklärungen gesucht für das Unerklärliche; etwas, das ihnen Halt gibt, wenn ihnen brutal und unvermittelt der Boden unter den Füßen weggerissen wird; etwas, das dem unfassbaren Schrecken ein Gesicht oder eine Gestalt gibt; etwas, das man wenigstens begreifen kann, wenn alles andere versagt.
Solche Gestalten finden sich in Sagen und Legenden, in Märchen und Mythen, werden konkret und greifbar und bilden die Grundlage für ein schicksalsgläubiges, metaphysisches Weltverständnis und vielleicht sogar so etwas wie Trost und Zuversicht, wenn die Welt und alles Heil in Trümmern liegt.
Unfassbare Ruhe und Stille liegt über dem, was einmal ein
Dorf und für Yui und die kleine Hiyori Heimat war. Eine trügerische Ruhe, die leicht mit Beschaulichkeit verwechselt werden kann. Organisieren sich die Bewohner und stellen Selbsthilfeaktionen auf die Beine, versinkt Yui in Apathie und Orientierungslosigkeit. Immerhin spricht sie noch ein paar Worte, wenn's nötig erscheint, Hiyori dagegen ist völlig verstummt. Nicht nur das Schicksal des Dorfes nach dem verheerenden Tsunami eint die beiden; auch mit einem persönlichen Schicksal, das sich lähmend über sie legt, haben beide zu kämpfen, Yui mit ihrem egomanischen, gewalttätigen Vater, Hiyori mit dem Verlust von Eltern, Freunden, Familie. Da werden sie von einer freundlichen, hilfsbereiten Oma aufgesammelt, die die beiden mit zu sich nehmen will und den Umstehenden verschmitzt vorlügt, das seien ihre Enkel.
Von all diesen zerrissenen inneren Welten lässt sich der Film überhaupt nichts anmerken. Zumindest nicht während der ersten Stunde. Er beharrt auch musikalisch auf diesem leicht trügerischen Iyashikei-Feeling, das minimalistisch mit Akustikgitarre erreicht wird. So steigen sie den langen Weg hoch auf das
Fuchskap, wo die Alte wohnt. Und wer die Bilder lesen kann, bekommt vielleicht hier schon einen vagen Begriff davon, was einen im folgenden erwartet. Denn der
Weg, den die drei nehmen, erinnert doch sehr an die angebliche
Abkürzung, die der Vater in »
Chihiro« nimmt. Nicht nur endet in beiden Fällen plötzlich die Straße – dies ist, nicht nur auf metaphorischer Ebene, zugleich auch die Grenze zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt.
Allmählich kann sich Yui mit dem Gedanken abfinden, sich hier oben häuslich niederzulassen, aber man will ja kein Arsch sein, also überwindet sie ihre phlegmatische Ader, will sich nützlich machen, so gut sie kann, und der kleinen Hiyori eine anständige Onee-san sein. Obwohl sie selber eigentlich mal wieder zur Schule gehen sollte, anstatt im lokalen Supermarkt auszuhelfen.
Und immer hält der Film sein unglaubliches Pacing durch. Er tut eine Menge dafür, daß der Zuschauer sich in dieser unbehaglichen Situation wohlfühlt, verwöhnt ihn mit unfassbar schönen Bildern in freundlichen, hellen Farben. Man registriert beiläufig, daß es zunehmend Mode zu werden scheint, auf dezente, bräunliche Outlines umzusteigen. Des
Flairs wegen, und damit sich die Figuren, die absichtsvoll flächig gehalten sind, besser in ihre Umgebung integrieren lassen. Auch Autos fahren sehr oldschool-mäßig, mit mildem, kaum wahrnehmbarem Ruckeln, als sei der CGI-Antrieb noch nicht erfunden. All das schafft eine unglaubliche Atmosphäre, zu der auch eine Menge kleiner und kleinster Szenen, Eindrücke und Bilder beitragen, die nichts bedeuten, aber viel erzählen. Auf diese Art erreicht es der Film, eine unerschütterliche Ruhe auszustrahlen, wie man sie nur von »Non Non Biyori« kennt.
Man ist schon fast erleichtert darüber, daß auch in diesem Werk nicht alles perfekt ist. Ziemlich oft bleibt einem der Mund offenstehen angesichts der Qualität der Bilder, die bei aller
Perfektion nie wie abfotografiert wirken. Doch dieser
Heckenzaun, eigentlich ein Meer aus blühenden
Blumen, macht den Eindruck, als hätte man ihn nachträglich reingeklebt. Wie damals bei den Collagen im Zeichenunterricht der Schule.
Das Anwesen, in dem die beiden Mädchen von nun an wohnen werden, ist eine wilde Mischung aus alt und neu. Moderne Gerätschaften stehen in trauter Eintracht neben eher altmodischer Einrichtung wie etwa der gemauerten Badewanne, die doch sehr an »
Totoro«
erinnert. Aber immer noch ist Yui nicht wirklich wohl in ihrer Haut, und sie verdächtigt die Oma, nicht ganz von dieser Welt zu sein. So völlig von der Hand zu weisen ist dieser Verdacht nicht. Schließlich erzählt sie (die Oma) die ganze Zeit
Märchen und Geschichten, die in seltsamem Zusammenhang stehen mit der furchtbaren Katastrophe, die über das Dorf hereingebrochen ist. Und auch der Zuschauer ahnt, daß da mehr im Busch ist, denn nicht von ungefähr breitet Hiyori langsam und wie zum Mitschreiben ihre Märchenbücher auf dem Tisch aus – ausgerechnet "
Hänsel und Gretel" mit der bösen Hexe! (dahinter noch "Sterntaler" und "Die Bremer Stadtmusikanten"; das letzte kann ich nicht entziffern) – und nicht von ungefähr erzählt die Alte das Märchen über das "Mayoiga no Ie", das Haus für Verirrte, das für all die eine Heimat sein will, die es gut behandeln und die keinen anderen Platz mehr haben. Nicht nur eine Art übernatürliche Entität, sondern auch ein Charaktertest à la Frau Holle.
So verstreichen Tage und Monate, festgehalten im
Wandel der
Natur, und ganz allmählich verschränken sich Realität und Märchenwelt. Ähnlich wie beim Katzenbus aus »Totoro«, greifen nun mehr oder weniger knuddelige
Wesen ins Geschehen ein, ab der Mitte des Films werden Sagen und alte Geschichten lebendig, und plötzlich stehen nicht nur befreundete
Kappas vor der Tür, die die Oma "von früher" noch kennt, sondern praktisch die komplette
Geisterwelt, sofern sie dem Menschen wohlgesonnen ist. Bald sieht es hinterm Haus aus wie bei »
Kamichu«. Nachdem schließlich genug
foreshadowing betrieben wurde, verhüllt sich der Vollmond hinter Wolken – was nie ein gutes Zeichen ist.
Um es etwas abzukürzen: Es wäre nicht nötig gewesen,
auf Endzeitdrama und Entscheidungsschlacht zu setzen. Das wirkt im Ganzen etwas unnatürlich und aufgesetzt. Diese unguten Erscheinungen des "Bösen" sind auch auf zeichenhafter Ebene dem Zuschauer völlig verständlich. In ihnen manifestieren sich all jene Dinge, denen der Mensch ausgesetzt ist und die sich seinem rationalen Verstand entziehen.
Angst, Trauer, Einsamkeit und Verzweiflung nehmen figürliche Gestalt an. Fast wie im Theater und in der bildenden Kunst in allegorischen Figuren. Und sie helfen dem Menschen dabei, nicht nur sich ein Bild von der Welt zu schaffen, sondern sich das Unbegreifbare begreiflich zu machen, wie eingangs beschrieben.
Daher sind auch die Referenzen an "Chihiro" und "Totoro" kein Zufall; auch dort nehmen solche Ängste Gestalt in Form von übernatürlichen und doch vertrauten Wesen an, welche Trost, Hilfe und Zuversicht bieten; und auch die "Oni" in »
Momo e no Tegami« haben eine ganz ähnliche Funktion, da sie der titelgebenden Heldin dabei helfen, über ihren Verlust hinweg und mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Ob all diese Geistergestalten real sind oder nicht, ist dabei gar nicht so wichtig.
Was auch immer »Misaki no Mayoiga« hier am Ende abzieht, man landet weich und halbwegs mit der Welt versöhnt auf dem Boden der Realität, und selbst die traumatisierte Yui sieht sich nun "der Zukunft zugewandt".
Was lernt und das? Man sollte nicht unentwegt in Abgründe blicken, denn der Abgrund blickt, laut Nietzsche, sonst zurück. Was noch? Hiyori ist unglaublich. Sie mag wohl stumm sein, aber gegen ihren Charme ist man machtlos.
Beitrag wurde zuletzt am 21.04.2024 20:22 geändert.
Kommentare
Da mir beide Werke aus unterschiedlichen Gründen gefallen, wusste 'Misaki no Mayohiga' mich vollauf zu überzeugen.
Im Zentrum stehen drei weibliche Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein Mädchen, eine Jugendliche - ja beinahe schon Erwachsene und eine gutmütige, alte Frau bilden den Kern in dieser Erzählung.
Der Film wirft Betrachtende zunächst ins kalte Wasser, doch schnell erfährt man, wie die Ausgangssituation zustande gekommen ist.
Weil hierbei auch die drei Hauptfiguren eingeführt werden, findet man ganz allmählich in die Geschichte. Im ruhigen Verlauf erfährt man im Stile eines Slice of Life Hintergründe zu den Hauptfiguren, den Orten, Traditionen und Mythen.
Für Freunde ruhiger, figurenzentrierter Erzählungen mit einem gemächlichen Spannungsbogen ist dieses kleine Abenteuer mit kurzen dramatischen Momenten (die jedoch nie in den Bereich einer Tragödie vorstoßen) ganz bestimmt einen Blick wert!
Vergleichen mit anderen phantastischen Werken wie dem oft hiermit in Verbindung gebrachten 'Sen to Chihiro no Kamikakushi ' von Studio Ghibli kann ich nicht beipflichten. Viel eher sollte man - wenn überhaupt - 'Mein Nachbar Totoro' nennen. Allerdings ist dies nur insofern möglich, was die Atmosphäre und das Erzähltempo anbelangt. Im Gegensatz zu diesem fehlt 'The House of the Lost on the Cape' jedoch der humorvolle Unterton und auch der Niedlichkeitsfaktor des Studio Ghibli Filmes wird nicht angestrebt.
Die wenigen 3D-Animationen fallen zwar auf, allerdings gibt es hier gelungene und weniger gut integrierte Stellen, an denen sich Zuschauende stören oder erfreuen könnten, aber nicht müssen denn sie sind gewöhnlich von kurzer Dauer und reichen nicht über eine hanvoll Kamerafahrten hinaus.
Mit kunstvollen, teils unübersichtlichen und überraschend untypischen Stilelementen (das restliche Design betreffend) - beim Erzählen von Mythen - wendet sich diese Studio David Produktion zudem eher an Jugendliche und Erwachsene. Diesem Anspruch wird ich auch Rechnung getragen und spiegelt sich zu Recht in der Altersfreigabe ab 12 Jahren wieder.
Zu technischen Aspekten oder der Musik kann ich nicht mehr schreiben, als die Tatsache, dass mir nichts unpassend erschien oder negativ aufgefallen ist.
Was die Produktion und Beteiligte anbelangt, verweise ich auf die Bereiche den Filmeintrag auf anisearch betreffend.
Von mir gibt es sehr zufriedene 4,5 Sterne (ich bin aber ein absoluter Fan solcher Werke!) und mit einer kleinen, brennenden Wunderkerze wünsche ich jedem Lesenden oder den Film schauenden Personen viel Vergnügen. ^_^/"