AsaneRedakteur
#1Dieser kleine Stop-Motion-Film von Tomoki Misato paraphrasiert das bekannte Märchen der Gebrüder Grimm "Der Wolf und die sieben Geißlein" und denkt die Geschichte vom Ende her. Der Wolf liegt satt und wie sediert auf dem Waldboden, als die Geißenmutter seinen Bauch aufschneidet und ihre Kinder rettet.
Weitgehend unverletzt, aber blutverschmiert und teilweise anverdaut, zieht sie eins nach dem anderen heraus. Eines fehlt jedoch, Toruku. Alsbald sieht man sie im Wald ein Kind hinter sich herschleifen, den Menschenjungen Natsuki, den sie für den Vermissten halten will. Und hier beginnt eine neue Geschichte.
Diese ist zunächst eine Geschichte des Fremdseins. Erst im Verlauf der Erzählung wird deutlich gemacht, wie weit einerseits die Welten von Tier und Mensch auseinanderliegen. Untereinander (und auch dem Zuschauer zuliebe) sprechen die Geißlein japanisch. Erst beim Wechsel der Perspektive wird klar, was man anhand der Reaktionen zuvor schon ahnen konnte: weder verstehen die Tiere die Worte des Jungen, noch er ihre Sprache, die er lediglich als indifferentes Meckern und Blöken wahrnimmt.
Andererseits sind Tierkinder nicht wesentlich anders gestrickt als Menschenkinder - in ihrem Benehmen, ihren Bedürfnissen und ihrer Furcht. Die Bedrohung, von der die Mutter hier wie auch im zugrunde liegenden Märchen so eindringlich spricht und warnt, ist eine externe, personifiziert in der Gestalt des bösen Wolfes.
Oder doch nicht so extern, sondern in der Familie? Um diese Frage dreht sich der zweite Teil der Geschichte, als die Gefahr real und konkret im Wohnzimmer der Geißlein steht und sich als Natsukis Vater herausstellt.
Dieser anhand von sinnfälligen Zeichen ausgedrückten Ambivalenz im gegenseitigen Verstehen korrespondiert die Wahrnehmung des Fremden, der in die Hütte sich Zugang verschafft: für Natsuki ist es der Vater, für die anderen eine Bestie in Wolfsgestalt.
Am Ende ist dank des beherzten Eingreifens der Mutter alles wieder in Ordnung in einer bunten, von warmen Farben durchströmten Teletubbie-Welt; den Zuschauer jedoch, der die Zeichen lesen kann, fasst ein gelindes Grausen und er muss möglicherweise doch einige Male schwer schlucken.
Und mehr kann man von einem Film dieses Formats nicht verlangen.
Schon nach diesen ersten 10 Sekunden wird klar, dass dies wahrhaftig keine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder ist. Natürlich ist man als begeisterter Anime-Konsument gewohnt, dass ignorante Kreise die Gleichung Anime = Zeichentrick und Zeichentrick = Kinderkram aufmachen. Mit Stop-Motion-Filmen verhält es sich nicht viel anders: Jeder kennt ja Wallace & Gromit und jedes Kind kennt Shaun das Schaf.
Aber vielleicht hat man ja auch schon von Coraline gehört und hat daher eine Ahnung davon, welche Mittel diesem Medium zur Verfügung stehen und welche Abgründe sich somit auftun können.
Äußerlich betrachtet kommt "My Little Goat" ziemlich herzig und flauschig daher. Das liegt zu allererst daran, dass als Oberflächenmaterial für die Figuren sehr viel Filz und filzähnliches Material zum Einsatz kommt. Auch sind die Gesichtszüge derart weich und wollig, dass man sie auf den ersten Blick durchaus für Schafe halten könnte. Aus welchem Grund Natsuki für ihresgleichen gehalten wird, bleibt etwas unklar.
Ein Rewatch lehrt die Zeichen zu lesen und lenkt die Aufmerksamkeit auf einige Kleinigkeiten und dezent wie beiläufig gesetzte Hinweise, die sich als essentiell für das Verständnis herausstellen. Sei's der Blick auf die Schuhe des Vaters (das erste, was man bei seinem Eintreten zu sehen bekommt), die am Ende der Geschichte
Nicht nur optisch wird hier zuckersüße kawaiiness mit brutalem Horror konfrontiert, auch akustisch geht man in die Vollen und präsentiert einen Soundtrack, den man wohl psycho nennen könnte und der auf eine expressionistische Tonsprache jenseits der Tonalitätsgrenze baut. Das Grauen, das einen bei Schönbergs "Erwartung" erfasst, ist auch hier präsent.
Auf ziemlich hohem Level ist auch die Vertonung. Die der Kinder vielleicht nicht immer, aber die in aller Panik und Furcht um Fassung ringende Mutter ist sprachlich sehr überzeugend eingefangen.
Um was es hier wirklich geht in diesem kleinen Film zeigt die Szene, als die zurückkehrende Mutter eingreift und der überwältigte Fremde in verräterischer Pose am Boden liegt. Und alle verstreuten Details fügen sich nun zu einem stimmigen Ganzen zusammen.
Fazit:
Selten hat mich seit Coraline ein Stop-Motion-Film derart beeindruckt. Zur Zeit der Niederschrift dieser Rezension läuft er noch einen Monat lang auf Arte. Schaut ihn euch an. Dann schaut ihn nochmal an. Und dann noch ein drittes Mal.
Selbst beim dritten Mal habe ich keinen Punkt gefunden, der zu kritisieren wäre.
Weitgehend unverletzt, aber blutverschmiert und teilweise anverdaut, zieht sie eins nach dem anderen heraus. Eines fehlt jedoch, Toruku. Alsbald sieht man sie im Wald ein Kind hinter sich herschleifen, den Menschenjungen Natsuki, den sie für den Vermissten halten will. Und hier beginnt eine neue Geschichte.
Diese ist zunächst eine Geschichte des Fremdseins. Erst im Verlauf der Erzählung wird deutlich gemacht, wie weit einerseits die Welten von Tier und Mensch auseinanderliegen. Untereinander (und auch dem Zuschauer zuliebe) sprechen die Geißlein japanisch. Erst beim Wechsel der Perspektive wird klar, was man anhand der Reaktionen zuvor schon ahnen konnte: weder verstehen die Tiere die Worte des Jungen, noch er ihre Sprache, die er lediglich als indifferentes Meckern und Blöken wahrnimmt.
Andererseits sind Tierkinder nicht wesentlich anders gestrickt als Menschenkinder - in ihrem Benehmen, ihren Bedürfnissen und ihrer Furcht. Die Bedrohung, von der die Mutter hier wie auch im zugrunde liegenden Märchen so eindringlich spricht und warnt, ist eine externe, personifiziert in der Gestalt des bösen Wolfes.
Oder doch nicht so extern, sondern in der Familie? Um diese Frage dreht sich der zweite Teil der Geschichte, als die Gefahr real und konkret im Wohnzimmer der Geißlein steht und sich als Natsukis Vater herausstellt.
Dieser anhand von sinnfälligen Zeichen ausgedrückten Ambivalenz im gegenseitigen Verstehen korrespondiert die Wahrnehmung des Fremden, der in die Hütte sich Zugang verschafft: für Natsuki ist es der Vater, für die anderen eine Bestie in Wolfsgestalt.
Am Ende ist dank des beherzten Eingreifens der Mutter alles wieder in Ordnung in einer bunten, von warmen Farben durchströmten Teletubbie-Welt; den Zuschauer jedoch, der die Zeichen lesen kann, fasst ein gelindes Grausen und er muss möglicherweise doch einige Male schwer schlucken.
Und mehr kann man von einem Film dieses Formats nicht verlangen.
Schon nach diesen ersten 10 Sekunden wird klar, dass dies wahrhaftig keine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder ist. Natürlich ist man als begeisterter Anime-Konsument gewohnt, dass ignorante Kreise die Gleichung Anime = Zeichentrick und Zeichentrick = Kinderkram aufmachen. Mit Stop-Motion-Filmen verhält es sich nicht viel anders: Jeder kennt ja Wallace & Gromit und jedes Kind kennt Shaun das Schaf.
Aber vielleicht hat man ja auch schon von Coraline gehört und hat daher eine Ahnung davon, welche Mittel diesem Medium zur Verfügung stehen und welche Abgründe sich somit auftun können.
Äußerlich betrachtet kommt "My Little Goat" ziemlich herzig und flauschig daher. Das liegt zu allererst daran, dass als Oberflächenmaterial für die Figuren sehr viel Filz und filzähnliches Material zum Einsatz kommt. Auch sind die Gesichtszüge derart weich und wollig, dass man sie auf den ersten Blick durchaus für Schafe halten könnte. Aus welchem Grund Natsuki für ihresgleichen gehalten wird, bleibt etwas unklar.
Natürlich, er hat, wie zur Tarnung, eine weiße wollene Jacke an, an deren Kapuze zwei neckische Öhrchen hängen; und die Mutter ist buchstäblich blind vor Sorge und Furcht. Das erklärt aber nicht vollends die Reaktion der Kinder - übel zugerichtet und teils von Verdauungssekreten entstellt, wie sie sind.
Ein Rewatch lehrt die Zeichen zu lesen und lenkt die Aufmerksamkeit auf einige Kleinigkeiten und dezent wie beiläufig gesetzte Hinweise, die sich als essentiell für das Verständnis herausstellen. Sei's der Blick auf die Schuhe des Vaters (das erste, was man bei seinem Eintreten zu sehen bekommt), die am Ende der Geschichte
aus dem nahen Tümpel herauftauchen - womit sich der Kreis um Film und Märchen wieder schließt;
sei's die Szene, als Natsuki sich unerklärlicherweise gegen die Umarmung seines Vaters wehrt. Jedoch:In dem Moment, da Natsuki der entstellten kleinen Schwester seine Jacke gibt, sieht man wie beiläufig seine mit Blutergüssen übersäten Arme …
Nicht nur optisch wird hier zuckersüße kawaiiness mit brutalem Horror konfrontiert, auch akustisch geht man in die Vollen und präsentiert einen Soundtrack, den man wohl psycho nennen könnte und der auf eine expressionistische Tonsprache jenseits der Tonalitätsgrenze baut. Das Grauen, das einen bei Schönbergs "Erwartung" erfasst, ist auch hier präsent.
Auf ziemlich hohem Level ist auch die Vertonung. Die der Kinder vielleicht nicht immer, aber die in aller Panik und Furcht um Fassung ringende Mutter ist sprachlich sehr überzeugend eingefangen.
Um was es hier wirklich geht in diesem kleinen Film zeigt die Szene, als die zurückkehrende Mutter eingreift und der überwältigte Fremde in verräterischer Pose am Boden liegt. Und alle verstreuten Details fügen sich nun zu einem stimmigen Ganzen zusammen.
Apropos Details: zum Abschluss zwei drei von vielen Einzelheiten:
- Als die Mutter den Bauch des Wolfes nochmals nach Toruku absucht, zoomt die Kamera zurück durch das blutige Gekröse und die title card formiert sich. Schließlich verformen sich die Kana des Titels zu den Wackersteinen, die die Geißenmutter am Ende in den Wolfsbauch einnäht.
- Wieso zeigt die Standuhr halb zwei, Papas Handy aber 18.57 Uhr?
- [Edit] Dies sagt der Beschreibungstext: "So entführt sie kurzerhand Natsuki, steckt ihn in ein Ziegenfell und bringt ihn mit nach Hause." - Nahezu alles, was in dem kurzen Werk geschieht, muss sich der Zuschauer selbst zusammenreimen. Gesicherte Erkenntnisse gibt es nur wenige. Was man wirklich sieht (und hört) und was man aufgrund des Gesehenen sagen kann, ist folgendes: Die Mutter zieht in der zweiten Szene ein sich sträubendes Menschenkind hinter sich her. 1) Es folgt ihr also nicht aus eigenem Antrieb. 2) Es hat eine Art weiße Wolljacke übergezogen. Wobei rein anhand des oben verlinkten Gruppenfotos man zu dem Schluss kommen darf, dass es sich dabei um die Jacke von Toruku handelt. Denn alle Kinder haben eine eigene Jacke in jeweils einer anderen Farbe. 3) Sie stellt das Kind zuhause als den vermissten Bruder vor, mit eindringlichen Worten und einem Ausdruck in der Stimme, der nahelegt, dass sie sowohl ihren Kinder wie auch sich selbst verzweifelt einreden will, es handele sich hier um Toruku: "kaa-san da yo" - "ich bin's, deine Mutter!", 4) Folgerung: Der Überwurf könnte zur Tarnung sein. 5) Weitergehende Folgerung: Natsuki wurde entführt; die genauen Umstände bleiben unklar. Möglicherweise sträubt sich nicht nur Natsuki gegen seine Neueingliederung, sondern auch der Zuschauer gegen den Gedanken, eine unter Schock stehende Mutter könnte einen herben Schicksalsschlag durch ein infames Verbrechen auszugleichen versuchen. Ein weiterer Stein im Gebäude der sich hier auftürmenden Ambivalenzen. Einer, der den Zuschauer am Ende sehr unbehaglich zurücklässt.
Fazit:
Selten hat mich seit Coraline ein Stop-Motion-Film derart beeindruckt. Zur Zeit der Niederschrift dieser Rezension läuft er noch einen Monat lang auf Arte. Schaut ihn euch an. Dann schaut ihn nochmal an. Und dann noch ein drittes Mal.
Selbst beim dritten Mal habe ich keinen Punkt gefunden, der zu kritisieren wäre.
Beitrag wurde zuletzt am 30.07.2023 04:15 geändert.
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