Was ist schon perfekt auf dieser Welt?
Auch dieser Film war nicht perfekt. Es gab im Vorfeld nichts, was mir entgegenschrie:
"Schau dir das an! Das musst du gesehen haben!" Keine mir bekannte Namen, keine berühmte Vorlage, keine Empfehlungen, nichts.
Was es aber gab, war das
Cover, und das zeigt einen Jungen und ein Mädchen (oder eine junge Frau) im Rollstuhl, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht ruft Erinnerungen wach an bittersüße Romanzen und Tragikomödien wie
Gotou ni Naritai,
Momoko, oder aus jüngerer Zeit
Koe no Katachi, bei denen jeweils die gehandicapte Heldin sich mit ihrem Leben, ihren eingeschränkten Möglichkeiten und vor allem mit den Reaktionen ihrer Umwelt herumschlagen muss.
Das eröffnet unendliche Möglichkeiten für bekannte und beliebte Tropen, die zum Ziel haben, pädagogisch auf den Zuschauer einzuwirken, sowie auch ordentlich und möglichst klischeegetränkt auf die Tränendrüse zu drücken.
Um es kurz zu machen:
nichts von alledem ist hier der Fall; keine dieser Möglichkeiten, vorgestanzte dramaturgische Elemente einzusetzen, wird überhaupt je in Betracht gezogen! Und in dieser Art, wie hier Abläufe von Szenen, das sich Entfalten der Geschichte, die Charaktere und ihre Welt realisiert sind, liegt das Geheimnis begründet, warum dieser Film so außergewöhnlich ist – vielleicht nicht perfekt, aber verflixt nah dran.
Was am Ende übrig bleibt, ist dieses warme Gefühl von überströmendem Glück im Herzen, das sich allmählich überallhin ausbreitet. Leider vernebelt dies auch etwas den Verstand, und so gestaltet es sich schwierig, unter dem unmittelbaren Eindruck des eben Gesehenen einen halbwegs vernünftigen Text zu schreiben. Jedenfalls macht dieser Film verdammt viel richtig. Vor allem erinnert er sich daran, daß ein Film von den Bildern lebt. Bilder, die eine Geschichte erzählen. Oder eine Entwicklung kommentieren. Dies gelingt ihm auf beeindruckende Weise.
Oft werden hier Bilder einfach so auf den Zuschauer losgelassen, zutiefst bewegende Bilder, mit nur minimalem Text, kleine charakteristische Bewegungen oder Gesten, Bilder von einer unnennbaren Schönheit, daß man weinen möchte, wie beispielsweise gleich zu Beginn, als die männliche Hauptperson,
Tsuneo Suzukawa, vorgestellt wird und mit ihm sein Traum, für den er lebt, die Unterwasserwelt und ihre Bewohner; und auch sein typischer Tagesablauf, vom Studium bis zum Nebenjob, wird wie in kurzen Spotlights aufgefächert. Solche Bilder von berauschender Schönheit bereiten schon früh auf ein außergewöhnliches cineastisches Erlebnis vor. Der Einsatz von CGI hält sich dabei in erstaunlichen Grenzen und man vertraut voll auf die Magie des Handgezeichneten. Selbst der Ventilator ist 2D.
Tsuneo wirkt wie der übliche normale Durchschnittstyp – der aber gerade dadurch aus der Reihe der leicht freakigen Gestalten, mit denen der sein Hobby, das Tauchen, teilt, auch ein wenig hervorsticht. Ganz zu schweigen von einigen anderen Gestalten, die man auch hier in Osaka antreffen kann, wo die ganze Geschichte spielt. Immer wirkt er ein wenig zu ernst, zu fokussiert, ist ein wenig wortkarg, und kaum etwas scheint ihn so leicht aus der Fassung bringen zu können. Stoisch und gelassen erträgt er die Widrigkeiten des Lebens, und so erträgt er auch ihre indolente, abweisende Art und lässt sich bald nicht mehr von ihren Mätzchen nerven.
Sie, das ist
Jose ( ジョゼ geschrieben), deren Name aus Gründen, die im Dunkeln liegen, überall mit Doppel-e romanisiert wird. Seit Ewigkeiten schon ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, und wohl aufgrund schlechter Erfahrungen versucht sie sich ihre Umwelt so gut es geht vom Leibe zu halten und wohnt zusammen mit ihrer Großmutter, der einzigen Person, der sie vertraut, in deren Haus. Die Begegnung von Josee und Tsuneo ist allerdings von einer Art, wie sie typischer für Anime nicht sein könnte. Er beweist sich als heldenhafter Retter in höchster Not und erntet dafür nichts als zickigen Trotz und giftige Bemerkungen. Das aber hat so seine Gründe.
Weder will Josee Mitleid erregen, noch mag sie sich weiters den aggressiven Reaktionen fremder Menschen aussetzen, und so hat sie ein feines Gespür entwickelt für das Verhalten und die Gedanken der Personen, die sich ihr zu nähern wagen. Diese peinlich berührten, oft ablehnenden und manchmal in offene Aggressivität ausartenden Reaktionen werden einige Male im Film dokumentiert – und sie irritieren und befremden etwas bei der Bevölkerung von Osaka, die als eher weltoffen und großherzig gilt, könnte aber einigermaßen schlüssig zu erklären sein über das buddhistische Konzept von Karma und Wiedergeburt und was das für einen behinderten Menschen genau bedeutet. (Mal davon abgesehen, daß in Japan
einiges anders ist als hier im Westen.)
Daher kommt es zu einem gewissen Grundmisstrauen allem Fremden gegenüber, als bitteres Resultat aus den Reaktionen ihrer Umwelt, als Selbstschutz und auch aus verletztem Stolz. Diese Kratzbürstigkeit hat sie gemein mit
Rika aus »Hanbun no Tsuki«, und darüber hinaus auch das stille In-sich-Zurückziehen und die tiefe Liebe zu Büchern. In diesem Fall nicht zu Akutagawa, sondern dem literarischen Werk von
Françoise Sagan. Diese Begeisterung für die französische Schriftstellerin hat ihr die erste echte Freundschaft ihres Lebens beschert, als sie mit
Kana Kishimoto aus der Leihbibliothek ins Gespräch kommt.
Mit Tsuneo und Josee treffen hier zwei Dickköpfe aufeinander, die sich im Grunde in nichts nachstehen. Sachte, aber stetig schafft er es, sie aus der selbstauferlegten Isolation zu lösen, und als er einmal auf der Suche nach der vermissten Josee verbotenerweise die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, breitet sich in den Dingen und all den Bildern, die dort hängen, der
Traum eines besseren Lebens aus, und man ahnt das enorme künstlerische Potential, das in Josee schlummert.
Nach jenem Vorfall am Meer jedenfalls ist das Eis gebrochen. Ein neues Leben kommt über sie und man sieht förmlich die Sonne in ihrem Herzen aufgehen. Erstmals wechselt die Filmmusik von der großen symphonischen Geste zu leichter, leichtfüßiger, luftiger BGM in poppigem Outfit, und der Film verwöhnt uns mit kurz hintereinander geschnittenen, aber charakteristischen Momentaufnahmen aus ihrem neuen Leben.
Jetzt zeigt sich auch die Stärke und der unbedingte Wille, sich ihrer Angst und den inneren Dämonen zu stellen. So steht sie furchtsam, aber fest entschlossen mit Tsuneo im Zoo dem
Tiger gegenüber. Dem Einzelgänger, der für sie die äußere Welt mit ihren menschlichen Bestien verkörpert. Und auch das Ausgeliefertsein an das Leben.
Die
Fische jedoch, die ebenfalls im Filmtitel thematisiert werden, stehen für Geborgenheit im Schwarm und für Vertrauen. Das ist seine Welt, und erklärtermaßen liebt er alle Menschen, die auch sein Fische lieben. So erlebt man eine sprachlose und sacht errötende Josee, die sich alsbald daheim vor dem Spiegel feinmacht.
Und dann kommt es zu der Katastrophe, die alles auf den Kopf stellt.
Das Motiv der Meerjungfrau ist dem Film nicht neu; es wurde als Traumsequenz schon eingeführt und versinnbildlicht natürlich treffend die körperliche Situation, in der sich Josee befindet. Diese sehr eigene Version des Märchens von der kleinen Meerjungfrau als Spiegel des eigenen Schicksals und als Parabel für ein selbstbestimmtes Leben prägt nun im folgenden den zweiten Teil des Films, in welchem das Märchen metaphorisch durch Bilder der eigenen Angst und Unzulänglichkeit variiert wird. Und erzählt so die Geschichte des eigenen Lebens neu.
Was folgt, ist Aufbau und Neugeburt. Ja, der Film manövriert bei aller Schönheit und Warmherzigkeit einige Male am Rande des Abgrunds. Und trotz der beschränkten Laufzeit wirken die Ereignisse nie forciert noch über die Maßen gedrängt. Immer behält er das ruhige Pacing, auch wenn die Monate wie im Fluge vergehen. Und immer bleibt Zeit für zwingende Bilder von großer symbolischer Kraft und tiefer Empathie.
Denn darin sehe ich die größte Stärke des Films: in der sanften, lakonischen und doch pointierten Darstellung von stillen, beredten Szenen und Reaktionen, nie aufdringlich, aber immer fesselnd, lebensnah und von bestechender Klarheit, und immer eine unglaubliche Herzenswärme ausstrahlend. Nie von Routine getrieben oder in klischeehafte Bilder abgleitend, immer lebhaft und ausdrucksvoll.
Bedächtig und sich Zeit lassend. Überwältigend und unfassbar schön.
Nachtrag:Das Stichwort "Clownfisch" ist irgendwann mal Anlass für eine Rückblende zu einem Aquariumsbesuch in Tsuneos Kindheit. Und netterweise sind in diesem Becken alle Protagonisten aus »Findet Nemo« versammelt - in echt natürlich.Beitrag wurde zuletzt am 20.03.2022 16:16 geändert.
Kommentare
Irgendwie konnte ich keine so richtige Verbindung zu den Beiden aufbauen. Auch manche Sachen wirken für mich unlogisch und zu viel konstruiert.
Die Hauptcharaktere sind echt gut geschrieben - die Nebencharaktere eher nicht so. Aber das müssen sie auch nicht sein.