Auch wenn der Spoilergehalt bzgl. vorheriger Staffeln sehr gering ist, trotzdem vorsorglich die Warnung. Aber ehrlich gesagt: Wer Interesse an der gesamten Serien hat, der fange bitte bei Staffel 1 an und ignoriere diese neuerliche Textwand. Die Rezension selbst ist nicht absolut spoilerfrei, geht damit aber nicht weiter als Episode 6 und auch das relativ vage. Dennoch: Konsum auf eigene Gefahr.
Manchmal hasse ich die Anime-Industrie. Da wird einem eine 16 Episoden lange Staffel mit dem Namenszusatz »The Final Season« vor den Latz geknallt, und dann sitzt man am Ende verwirrt da und fragt sich: Was ist das denn bitte für ein Ende? Die Antwort ist denkbar einfach: Gar keines, denn »Attack on Titan: The Final Season (2022)« war ja bereits angekündigt, nur habe ich zwecks Spoilervermeidung jegliche Recherche vermieden, auch auf aniSearch. Hätte ich die Angelegenheit mal skeptischer hinterfragt – etwas, das auch vielen (neuen) Figuren dieser Serie gut getan hätte …
Abgesehen von dieser naiven Erwartung hat mich »Attack on Titan: The Final Season« allerdings keineswegs enttäuscht, im Gegenteil: Weder kann man sich über zu schnelles noch zu langsames Pacing noch über einen Mangel an Abwechslung beschweren. Auch hinsichtlich Dramatik und Übertreibung schießt das Werk den Vogel nicht ab – jedenfalls nicht mehr als sonst, denn natürlich bleibt auch dieser Teil von »Attack on Titan« rabiat und schonungslos. Dennoch muss man als Zuschauer auf zwei Dinge gefasst sein: auf einen Wurf ins zunächst kalte Wasser und auf den Umstand, dass die klassische Gut-Böse-Front ziemlich aufgeweicht wird – auch wenn Zweiteres nach den Enthüllungen des letzten Staffelteils schon absehbar war.
Der Einstieg ist also ein bisschen verwirrend: Statt an Eren und seinen Gefährten darf man sich am Kampfgeschehen auf dem Festland »erfreuen«. Das Reich Marley befindet sich im Krieg mit den Kräften der Mid-East Allied Forces, und schnell wird klar, dass dieser Krieg schon vier Jahre andauert und nur dank der Niederlage von Reiner und Co. begonnen hat – in der Handlung hat also ein Zeitsprung stattgefunden. In dieser ersten Episode geht, salopp gesagt, ziemlich die Post ab, sie zeigt aber auch bereits, was einen inhaltlich so erwarten wird: die Verachtung der Eldian, ergo der Titanen, durch die »normalen« Menschen. Die Eldians werden im aktuellen Gemetzel – anders kann man es teilweise nicht nennen – allzu bereitwillig in den Tod geschickt, denn schließlich sind sich die Nichttitanen in einem einig: Etwas anderes hat dieser »Abschaum« auch gar nicht verdient.
Die Fronten – einst Titanen böse, Menschen gut – sind nun etwas schwammiger: Die Eldian waren laut Legende für eine Menge Elend verantwortlich und allein ihre Existenz ist angsteinflößend genug – etwas, das auch jeder Zuschauer bereits in den 59 Episoden nachvollziehen konnte. Marley allerdings ist eine gierige Nation und nutzt die Angst der Masse vor den potienziellen Titanen, um selbige erbarmungslos zu missbrauchen, mitunter auch einfach als Kanonenfutter. Das geht letztendlich soweit, dass Kinder der unterdrückten Eldian davon träumen, Kriegerkandidaten und letztendlich zu einem der intelligenten Titanen zu werden und es für die höchste Ehre halten, ihre verbleibende Lebensspanne auf lumpige 13 Jahre verkürzen zu lassen und anschließend ihr kurzes Restleben in einen Kampf für ein herzlose Nation zu riskieren.
Zu Beginn werden auch die Leben diverser Einwohner der Sperrzone in Marleys Hauptstadt Rebellio behandelt, darunter auch vier junge Kriegerrekruten, die allesamt der nächste Gepanzerte Titan werden wollen und durch die fortwährende Indoktrination mitunter schon fanatisch wirken. Insbesondere die junge Gabi, zugleich eine Verwandte von Reiner, ist davon stark betroffen, hält sie doch besonders die Eldian der Insel Paradis für Teufel und wünscht sich nichts mehr, als ein Ehrenmitglied der Marleybevölkerung zu werden; sowohl die Ansicht als auch den Wunsch vertritt sie nicht allein.
Man sieht als Zuschauer hier schon fast hilflos zu, denn einerseits sind die Unterdrückten arme Schweine, aber ihr blinder Hass auf die Insel-Eldian macht sie auch nicht wirklich besser als ihre Peiniger. Fast schon unangenehm wird es aber, wenn nach ein paar Episoden Eren und all die anderen einstigen Helden auftauchen und bei ihrem Vorhaben links und rechts des Weges für Tote im Überfluss sorgen. Da weiß man gleich gar nicht mehr, für wen man eigentlich sein soll – zumal man bei dem Spektakel, das so grauenhaft wie unterhaltsam ist, sowieso nicht viel Zeit hat, ausgiebig darüber zu philosophieren. Nach einer rabiaten ersten Hälfte werden jedoch auch etliche Ereignisse aus den letzten vier Jahren und teilweise sogar noch früher beleuchtet, sodass der Zuschauer sogar den Auftakt zum initialen Angriff in der allerersten Episode der Anime-Umsetzung aus Sicht der Gegner nachvollziehen kann. Diese Staffel bemüht sich darum, nicht nur das aktuelle Geschehen weiterzuspinnen, sondern auch Hintergründe einzuflechten und somit das Gesamtbild stetig auszubauen – eine Sache, die sie meiner Meinung nach ziemlich gut macht, die aber auch mehr Aufmerksamkeit vom Publikum verlangt.
Die Grundstimmung wechselt jedenfalls weg von der unmittelbaren Angst ums Überleben hin zu eher düsterem und beklemmendem Kriegsgeschehen, wenngleich immer noch mit der typischen Attack-of-Titan-Überzeichnung hantiert wird und die ganze Angelegenheit natürlich noch genauso rabiat und schonungslos ist wie eh und je. Durchaus anders wirken auch die zuvor etablierten Charaktere, insbesondere Eren. Der ist längst nicht mehr nur ein Griesgram mit Rachegelüsten, sondern kommt regelrecht desillusioniert bzw. resigniert rüber, vor allem aber kalt und gefühlslos – oder will so wirken, denn auch nach allen 16 Episoden habe ich (sicherlich zu Recht) das Gefühl, dass hinter dieser Fassade eine ganze Ecke mehr steckt. Ansonsten ist es auf der Bühne ziemlich eng geworden, denn neben zahlreichen Figuren aus Paradis werden ja auch auf gegnerische Seite einige Figuren beleuchtet, darunter etliche neue – so bleibt für einzelne Individuen zwangsweise wenig Zeit. Da diese Staffel auch die vergangene vier Jahre aus Sicht der Gegner, insbesondere Reiner, aufarbeitet, wirken die vermeintlichen Feinde tatsächlich etwas besser in Szene gesetzt. Hervorheben will ich – vielleicht überraschend – Gabi, die bald aus ihrer Fanatikerblase herausgerissen und mit den Konsequenzen ihres Handels sowie Einzelschicksalen auf Seiten der Gegner konfrontiert wird. Ein regelrechtes Highlight ist eine Szene, in der sie gefragt wird, warum eine Mutter sterben musste, obwohl sie nichts getan hat und mit den initialen Kriegshandlungen der Eldian rein gar nichts zu tun hat. Dabei zuzusehen, wie Gabis Ansichten systematisch bröckeln und ihr Weltbild massiv ins Schwanken gerät (aber nicht zusammenbricht), war faszinierend wie bewegend. Ein andersartiges Highlight war wiederum die Begegnung zwischen Reiner und Eren, die vermutlich überfällig war und im Endeffekt so etwas wie die Vergeltung für ebenjene Szene aus Episode 6 der zweiten Staffel.
Nun könnte ich noch versuchen, mich ausführlich zur Technik zu äußern, aber im Grunde bietet der Anime hier genau das, was man erwartet: Fulminant inszenierte Action, die manchmal auch etwas selbstverherrlichend in den Slow-Motion-Modus wechselt, gepaart mit einem gewohnt tollem Zeichenstil und einem Soundtrack, der einen nicht überraschend dürfte: Orchestraler Bombast, stets passend, aber mitunter (insbesondere in dramatischen Actionszenen) eben auch mal dick auftragend – eine Art von Stilmittel, die natürlich mit voller Absicht eingesetzt wird und für meinen Geschmack auch passt. Faszinierend finde ich das Intro: eine sonderbare Mischung aus Rock, orchestraler Musik, Synthesizern und teilweise etwas verzerrten Gesang, der eigentlich ein ähnlich latenter Irrsinn innewohnt wie der Handlung. Meines Erachtens das passende (und womöglich beste) Titellied der gesamten Serie bislang.
Die Synchronisation tut ihr Übriges, aber mal ehrlich: Wann tut sie das mal nicht? Mittlerweile lohnt sich das Anschneiden des Themas ja eigentlich nur noch bei Ausreißern nach oben oder unten – aber vielleicht meide ich auch nur die schwachen Werke konsequent genug …
Fazit:
Nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern eben auch auf technischer Ebene kann die Serie das »Reißerische« nicht leugnen – und hat es nie auch nur ansatzweise gewollt. Natürlich ist diese Staffel nur noch für Kenner bzw. Fans sinnvoll, und denen wird einerseits die altbekannte Mischung, aber eben doch eine andere Grundstimmung geboten. Mehr Figuren und mehr Handlungsdetails erfordern zwar mehr Konzentration, bieten aber ein ansonsten spannendes und gewohnt dramatisches Paket mit schlichtweg mehr Inhalt, das sich keineswegs hinter den Vorgängern verstecken muss.
Update 29.01.2023: Nennung des falschen Titels korrigiert
Kommentare
Ich finde, dass der Breaking Point mehr als unpassend gewählt ist. Hätte man noch drei Kapitel animiert, wäre es wohl der Bänger des Jahrzehnts geworden.
Kann jedem nur empfehlen, ab Kapitel 115 bis 120 zu lesen, dann steht ihr genauso fassungslos und geflasht da wie ich.
Immerhin hieß die Serie Final Season da wäre das mehr als passend gewesen.Ich hätte gerne die Reaktionenwelle miterlebt.
Schade, aber alle anderen dürfen sich auf die nächste Staffel freuen.
Animationstechnisch geht es in gewohnter Manier weiter. Qualitativ sehr hochwertig, lediglich wer nach Unterschieden sucht wird in Nuancen fündig.
Leider schlittert die Story hier in einen Wirrwarr der schwer zu beschreiben oder nachzuvollziehen ist. Schade. Wer japanische oder generell asiatische Realfilme gesehen hat wird wissen was ich meine: Stichwort Overacting.
Mir ist völlig schleierhaft wieso man hier mehrere unwichtige Charaktere einbauen musste mit absolut inkonsistenten und schlicht langweiligen Hintergrundstorys um die ganze Serie "aufzupeppen" (?) und dadurch zu verkomplizieren.