SlaughtertripV.I.P.
#1Es ist stets eine Freude, einen Manga von Junji Itou zu lesen – nur sollte man dabei nicht unbedingt etwas essen.
Bei der Hauptgeschichte, die in sechs der insgesamt acht Kapitel dieses Bandes erzählt wird, begleitet man vier Menschen, die sich gerade erst kennengelernt haben und einen gemeinsamen Selbstmord planen: Marusou, Taburou, Baracchi und Piitan. Die Story scheint zunächst in eine deprimierende Richtung zu gehen, doch Junji Itou wäre nicht Junji Itou, wenn das Lenkrad nicht nach wenigen Seiten mit aller Gewalt in eine andere Richtung gedreht und Kurs auf etwas viel Verquereres und Ekelhafteres genommen werden würde.
Alle vier erzählen, weshalb sie Selbstmord begehen wollen, wobei ihre Beweggründe auf seltsame Weise sehr ähnlich sind. Taburou erzählt von einem Doppelgänger, Baracchi von ihrem lebendig gewordenen Spiegelbild und Piitan von einem Roboter, der nach seinem Abbild konstruiert wurde. Nur die Begründung von Marusou, die behauptet, hellseherische Kräfte zu besitzen, hebt sich deutlich vom Rest ab. Der Mangaka schafft es so, dass sie vom Leser – egal ob bewusst oder unbewusst - anders wahrgenommen wird. Marusou besitzt ab da eine Art Sonderstellung, wodurch sie einfacher als Hauptfigur innerhalb der Vierergruppe erkannt wird.
Die Entwicklung im ersten Kapitel ist relativ vorhersehbar. Doch diese legt nur den Grundstein für eine viel absonderliche Geschichte, die von Kapitel zu Kapitel immer wieder für Überraschungen sorgt und trotz all dem Wahnsinn, der vor sich geht, keinen Raum für Plot Holes lässt. Apropos Stein. Um diesen funkelnden Stein geht es hier. Dieser stammt aus Piitans Pylorus, was gar nicht so random ist, wie es zunächst vielleicht erscheinen mag, denn das japanische Wort für »Pylorus« wird mit den Kanji für »Seelentür« geschrieben. Und so beginnt eine Geschichte, die in allerhöchstem Maße bizarr, deren Ablauf gleichzeitig aber auch nachvollziehbar ist. Es ist schon sehr geschickt gemacht, wie jede Szene auf die nächste aufbaut, sodass eine runde Geschichte entsteht, bei der jeder Schockmoment nicht dem Selbstzweck dient, sondern entscheidend für den weiteren Verlauf der Handlung ist, ohne dass dem Leser das zunächst bewusst ist.
Der Zeichenstil trägt die typische Handschrift von Herrn Itou. Erblickt man gleich auf einer der ersten Seiten dieses ausgeprägte Kinn von Piitan, meint man vielleicht, ein Amateur sei hier am Werk gewesen. Doch sogar dieses komisch aussehende Kinn wirkt nach kurzer Zeit und inmitten aller anderen grausigen Illustrationen, die in diesem Manga auf jeder Seite allgegenwärtig sind, auf ekelhafte Weise verdreht. Selbst eine so gewöhnliche Sache wie eine Hand wird so gezeichnet, dass »schön« das letzte Wort ist, das einem in den Sinn kommt. Und auch die Protagonistin wird von der Itou‘schen Hässlichkeitskur nicht verschont. Dadurch wird vermieden, dass der Leser sich mit der Protagonistin allzu sehr identifiziert und zu viel Empathie aufbaut. Man schafft etwas Distanz zwischen der Figur und dem Leser, was bei einem grotesken und verstörenden Werk wie diesem vielleicht sogar gut ist. Dadurch und z. B. auch durch disproportionierte und unwirklich erscheinende Körperteile wird eine Grenze zwischen Realität und Fiktion erschaffen.
Während man bei Marusou noch am ehesten hofft, dass sie den Horrortrip unbeschadet übersteht, kann man die anderen Charaktere aufgrund ihrer Handlungen nur schwer sympathisch finden. Taburou ist so finster, wie er aussieht. Mit Baracchi empfindet man vielleicht Mitleid, denn wenn gewisse Dinge nicht passiert wären, hätte sie vielleicht das gewöhnliche Leben einer gewöhnlichen Frau führen können. Piitan selbst wird nur wenig behandelt – aus Gründen.
Nach der sechs Kapitel umfassenden Hauptgeschichte gibt es noch zwei Bonus-Kapitel. Die erste nennt sich »The Licking Woman«. Wie der Titel schon sagt, geht es um eine Frau, die Leute leckt. Und glaubt mir, von dieser Frau wollt ihr nicht geleckt werden! Was mit den Opfern passiert, ist Itou-typisch sehr grausig. Bei seinen Manga muss man sich darauf einstellen, dass immer irgendetwas zu einer breiigen, undefinierbaren, triefenden Masse wird. Generell wird man hier womöglich an die Geschichte der Kuchisake-onna erinnert: eine Frau, die ahnungslosen Passanten in dunklen, engen Gassen auflauert. Das ist Stoff für eine klassische Horrorgeschichte. Interessant wird es jedoch, wenn dieser klassische Pfad verlassen wird und die leckende Lady menschlich gemacht wird, indem sie von der Nachbarschaftswache verfolgt und sogar gefangen genommen wird. In weiterer Folge geht es mehr um die psychischen als um die physischen Folgen der Leckerei und um den persönlichen Kampf der Protagonistin gegen die Frau mit der gefährlichen Zunge.
Das zweite Bonus-Kapitel, das zugleich der Abschluss dieses Mangas ist, nennt sich »Mystery Pavilion« und macht mit nur vier Seiten dem Begriff »Kurzgeschichte« alle Ehre. Der größte Schock oder vielleicht Blickfang ist dieses Ding, das bereits auf der zweiten Seite präsentiert wird. In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft im Jahr 2105 ist der Pelikan ein bereits ausgestorbenes Tier. Aus dessen Zellen wurde dieses monströse Etwas herangezüchtet. Dieses Kapitel zeigt einer düstere Zukunft oder zumindest einen düsteren Teil einer nicht näher definierten Zukunft. Niemand scheint zu wissen, wie ein Pelikan wirklich aussieht. Es gibt doch Bücher und Google. Warum wissen die Leute also nicht, wie dieses Tier aussieht? Man könnte hier so einiges hineininterpretieren, z. B. dass die Menschheit zwischen 2009 (dem Veröffentlichungsdatum des Mangas) und 2105 bereits am Rande des Untergangs stand, sich aber doch noch irgendwie retten konnte. Am Ende des Mangas wird dem Leser also noch der Anstoß gegeben, seine Fantasie anzukurbeln. Oder er ergötzt sich noch etwas länger an dem krassen Monsterviech.
Wenn man einen Horror-Manga liest, dabei etwas isst und im Anschluss bereut, während des Lesens etwas gegessen zu haben … hat der Horror-Manga dann alles richtig gemacht? Zumindest kann man sagen, dass Herr Itou abermals nicht enttäuscht hat. Es werden keine plumpen Schockmomente aneinandergereiht, sondern es ist die Geschichte selbst, die für den Horror sorgt. Und das ist auch viel wirksamer als irgendein Jump Scare. Zumindest sorgt diese Art der Geschichtenerzählung für eine weitaus bessere nachhaltige Wirkung, sodass man sich noch Jahre später an die substanziellen Dinge dieses Mangas erinnern kann.
Bei der Hauptgeschichte, die in sechs der insgesamt acht Kapitel dieses Bandes erzählt wird, begleitet man vier Menschen, die sich gerade erst kennengelernt haben und einen gemeinsamen Selbstmord planen: Marusou, Taburou, Baracchi und Piitan. Die Story scheint zunächst in eine deprimierende Richtung zu gehen, doch Junji Itou wäre nicht Junji Itou, wenn das Lenkrad nicht nach wenigen Seiten mit aller Gewalt in eine andere Richtung gedreht und Kurs auf etwas viel Verquereres und Ekelhafteres genommen werden würde.
Alle vier erzählen, weshalb sie Selbstmord begehen wollen, wobei ihre Beweggründe auf seltsame Weise sehr ähnlich sind. Taburou erzählt von einem Doppelgänger, Baracchi von ihrem lebendig gewordenen Spiegelbild und Piitan von einem Roboter, der nach seinem Abbild konstruiert wurde. Nur die Begründung von Marusou, die behauptet, hellseherische Kräfte zu besitzen, hebt sich deutlich vom Rest ab. Der Mangaka schafft es so, dass sie vom Leser – egal ob bewusst oder unbewusst - anders wahrgenommen wird. Marusou besitzt ab da eine Art Sonderstellung, wodurch sie einfacher als Hauptfigur innerhalb der Vierergruppe erkannt wird.
Die Entwicklung im ersten Kapitel ist relativ vorhersehbar. Doch diese legt nur den Grundstein für eine viel absonderliche Geschichte, die von Kapitel zu Kapitel immer wieder für Überraschungen sorgt und trotz all dem Wahnsinn, der vor sich geht, keinen Raum für Plot Holes lässt. Apropos Stein. Um diesen funkelnden Stein geht es hier. Dieser stammt aus Piitans Pylorus, was gar nicht so random ist, wie es zunächst vielleicht erscheinen mag, denn das japanische Wort für »Pylorus« wird mit den Kanji für »Seelentür« geschrieben. Und so beginnt eine Geschichte, die in allerhöchstem Maße bizarr, deren Ablauf gleichzeitig aber auch nachvollziehbar ist. Es ist schon sehr geschickt gemacht, wie jede Szene auf die nächste aufbaut, sodass eine runde Geschichte entsteht, bei der jeder Schockmoment nicht dem Selbstzweck dient, sondern entscheidend für den weiteren Verlauf der Handlung ist, ohne dass dem Leser das zunächst bewusst ist.
Der Zeichenstil trägt die typische Handschrift von Herrn Itou. Erblickt man gleich auf einer der ersten Seiten dieses ausgeprägte Kinn von Piitan, meint man vielleicht, ein Amateur sei hier am Werk gewesen. Doch sogar dieses komisch aussehende Kinn wirkt nach kurzer Zeit und inmitten aller anderen grausigen Illustrationen, die in diesem Manga auf jeder Seite allgegenwärtig sind, auf ekelhafte Weise verdreht. Selbst eine so gewöhnliche Sache wie eine Hand wird so gezeichnet, dass »schön« das letzte Wort ist, das einem in den Sinn kommt. Und auch die Protagonistin wird von der Itou‘schen Hässlichkeitskur nicht verschont. Dadurch wird vermieden, dass der Leser sich mit der Protagonistin allzu sehr identifiziert und zu viel Empathie aufbaut. Man schafft etwas Distanz zwischen der Figur und dem Leser, was bei einem grotesken und verstörenden Werk wie diesem vielleicht sogar gut ist. Dadurch und z. B. auch durch disproportionierte und unwirklich erscheinende Körperteile wird eine Grenze zwischen Realität und Fiktion erschaffen.
Während man bei Marusou noch am ehesten hofft, dass sie den Horrortrip unbeschadet übersteht, kann man die anderen Charaktere aufgrund ihrer Handlungen nur schwer sympathisch finden. Taburou ist so finster, wie er aussieht. Mit Baracchi empfindet man vielleicht Mitleid, denn wenn gewisse Dinge nicht passiert wären, hätte sie vielleicht das gewöhnliche Leben einer gewöhnlichen Frau führen können. Piitan selbst wird nur wenig behandelt – aus Gründen.
Nach der sechs Kapitel umfassenden Hauptgeschichte gibt es noch zwei Bonus-Kapitel. Die erste nennt sich »The Licking Woman«. Wie der Titel schon sagt, geht es um eine Frau, die Leute leckt. Und glaubt mir, von dieser Frau wollt ihr nicht geleckt werden! Was mit den Opfern passiert, ist Itou-typisch sehr grausig. Bei seinen Manga muss man sich darauf einstellen, dass immer irgendetwas zu einer breiigen, undefinierbaren, triefenden Masse wird. Generell wird man hier womöglich an die Geschichte der Kuchisake-onna erinnert: eine Frau, die ahnungslosen Passanten in dunklen, engen Gassen auflauert. Das ist Stoff für eine klassische Horrorgeschichte. Interessant wird es jedoch, wenn dieser klassische Pfad verlassen wird und die leckende Lady menschlich gemacht wird, indem sie von der Nachbarschaftswache verfolgt und sogar gefangen genommen wird. In weiterer Folge geht es mehr um die psychischen als um die physischen Folgen der Leckerei und um den persönlichen Kampf der Protagonistin gegen die Frau mit der gefährlichen Zunge.
Das zweite Bonus-Kapitel, das zugleich der Abschluss dieses Mangas ist, nennt sich »Mystery Pavilion« und macht mit nur vier Seiten dem Begriff »Kurzgeschichte« alle Ehre. Der größte Schock oder vielleicht Blickfang ist dieses Ding, das bereits auf der zweiten Seite präsentiert wird. In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft im Jahr 2105 ist der Pelikan ein bereits ausgestorbenes Tier. Aus dessen Zellen wurde dieses monströse Etwas herangezüchtet. Dieses Kapitel zeigt einer düstere Zukunft oder zumindest einen düsteren Teil einer nicht näher definierten Zukunft. Niemand scheint zu wissen, wie ein Pelikan wirklich aussieht. Es gibt doch Bücher und Google. Warum wissen die Leute also nicht, wie dieses Tier aussieht? Man könnte hier so einiges hineininterpretieren, z. B. dass die Menschheit zwischen 2009 (dem Veröffentlichungsdatum des Mangas) und 2105 bereits am Rande des Untergangs stand, sich aber doch noch irgendwie retten konnte. Am Ende des Mangas wird dem Leser also noch der Anstoß gegeben, seine Fantasie anzukurbeln. Oder er ergötzt sich noch etwas länger an dem krassen Monsterviech.
Wenn man einen Horror-Manga liest, dabei etwas isst und im Anschluss bereut, während des Lesens etwas gegessen zu haben … hat der Horror-Manga dann alles richtig gemacht? Zumindest kann man sagen, dass Herr Itou abermals nicht enttäuscht hat. Es werden keine plumpen Schockmomente aneinandergereiht, sondern es ist die Geschichte selbst, die für den Horror sorgt. Und das ist auch viel wirksamer als irgendein Jump Scare. Zumindest sorgt diese Art der Geschichtenerzählung für eine weitaus bessere nachhaltige Wirkung, sodass man sich noch Jahre später an die substanziellen Dinge dieses Mangas erinnern kann.
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