»Man findet Außerirdische überall in Japan.«
Das ist so ziemlich die erste Info, die einem in dieser Serie vermittelt wird. Seit etwa 20 Jahre zuvor ein UFO abgestürzt ist – ein vorbildlich klischeehaftes UFO übrigens – tummeln sich Außerirdische unter den Menschen, und keiner findet was dabei. Auch an den tiefen Krater, den der Einschlag hinterlassen hat und der mit allerhand Seltsamkeiten gefüllt ist, hat man sich gewöhnt.
Dann geht es
in media res und man erlebt eine enorm laute und hyperaktive
NieA*, die sich darüberhinaus auch ziemlich »
selbstsüchtig, gierig, rechthaberisch« aufführt. Die nix anderes im Kopf hat als sich ständig den Bauch vollzuschlagen und Mayukos Zimmer, in das sie sich eingenistet hat, mit allerhand Krempel vollzumüllen, den sie angeblich für ihre UFO-Bastelversuche braucht.
*gesprochen 'Nia'. Warum die sich "NieA" schreibt, dürfte allein der Autor wissen.Ein Charakter also, der ziemlich weit oben auf der Nervtöter-Skala agiert und der mit seiner "außerirdischen Frohnatur"
[Zitat Beschreibungstext] stark an
Kaora Suu aus »Love Hina« oder auch an »Karlsson vom Dach« erinnert, die beide recht ähnliche Qualitäten aufweisen. Ein Charakter, der jegliche Toleranzgrenzen bis aufs Äußerste strapaziert und den man am liebsten auf den Mond schießen möchte. Oder zumindest ihm permanent eine reinballern. So wie Mayuko manchmal, wenn ihre Geduldsfäden zerschlissen sind. Vor allem, weil
sie es ist, die als Studentin mit zwei Nebenjobs sich so gerade über Wasser halten kann. Die sich Gedanken um ihre Zukunft macht und deren Selbstwertgefühl es nicht zulässt, anderen zur Last zu fallen. Dieses ungleiche Pärchen bildet das Zentrum dieses Animes.
Aus diesem charakterlichen Potentialgefälle wird die hier schon oft erwähnte Comedy gewonnen. Comedy der für meinen Geschmack eher unerträglichen Art; Slapstick und Nonsense,
die dermaßen übertrieben inszeniert sind, daß sie einem sehr schnell auf die Senkel gehen können.
Daß ich diese Serie trotzdem durchgehalten habe, liegt einzig daran, daß
Yoshitoshi Abe hier seine Finger im Spiel hatte. Sowohl als Autor des zugrundeliegenden Mangas wie auch als Charakterdesigner. Das merkt man an vielen Details. Schon optisch nimmt einen dieser Anime gefangen mit seinen absolut gelungenen Hintergründen und seinen warmen, ausdrucksstarken Farben, daß man meint, ein Werk von
Ghibli vor sich zu haben. Aber durchaus auch wegen seinen Charakteren. Diese Charaktere sind das Herz des Animes. Natürlich von ihrer Persönlichkeit her, aber auch von der Genauigkeit des Ausdrucks, wie er sich
zum Beispiel in den Handbewegungen widerspiegelt – und mit dazu beiträgt, für viele der Charaktere Sympathie zu empfinden oder sie einfach für glaubwürdig zu halten.
Ist die hier aufgefahrene Comedy schon unangenehm genug, lässt sich die deutsche Übersetzung auch nicht lumpen und gleicht sich dem ins Kraut schießenden Slapstick an, indem sie Sachen abliefert, die möglichst originell sein sollen, aber nie gesagt wurden. Davon unbesehen, daß allerhand Begriffe an deutsche Verhältnisse anzupassen versucht wurde ("Nudelsalat" - WTF?).
Ähnlich eigenartig gestaltet sich die Auwahl der BGM, die hauptsächlich musikalische Einlagen im Ami-Stil auffährt, also Country, Blues und was sonst noch zur Illustration von Road-Movie-Einsamkeit geeignet scheint. Gekrönt wird dieses Ensemble von einem der scheußlichsten Openings, die mir je untergekommen sind.
So geht das bis etwa zur Mitte der Serie, dann wird, spätestens mit der 8. Episode, ein deutlich ernsterer, oder besser: melancholischerer Ton angeschlagen. Sowohl was die Charaktere angeht wie auch die gewählte Musik, die nun oft auf ruhige, maximal zweistimmige Gitarrenstücke zurückgreift. Ernst, ruhig, gefasst haftet NieAs Blick auf dem havarierten Mutterschiff, dessen Silhouette vage in der Ferne schimmert, und sie meint Stimmen zu hören, die ihr etwas mitteilen wollen. Ihr, die unter den Aliens als der letzte Dreck gilt.
Und damit geht's ab ins Reich der Spoilertags:
Auch wenn sie sich den irdischen Verhältnissen angepasst haben, gilt immer noch eine strenge gesellschaftliche Ordnung nach Rang und Ansehen unter den Außerirdischen. Die rangiert von +5 ("plus") bis -5 ("under"). Und NieA hat den Rang "under 7". Sie, die nicht einmal eine Antenne auf dem Kopf hat, ist der Paria unter den Aliens und wird daher auch in keinem amtlichen Verzeichnis geführt.
Und damit zum Kern der Geschichte:
Als völlig Chancenlose hat NieA sich entschlossen, sich nichts daraus zu machen. Das anzunehmen, was das Leben bringt und ansonsten sich's gut gehen zu lassen. Die Anfeindungen der Erwachsenen (speziell der überheblichen, eingebildeten
Alien-Chinesin) wie auch die Nachstellungen der
Kinder steckt sie scheinbar locker weg. Fast alles, was auf den ersten Blick so leicht, spaßig und auch nervig aussieht, hat im Grunde einen bitterernsten Kern.
Was anderes wäre von Yoshitoshi Abe auch kaum zu erwarten gewesen. Die Problematik und die Entwicklung der Charaktere ist hier noch nicht so greifbar und gelungen wie im ein Jahr später entstandenen »
Haibane Renmei«, und doch zeigen sich schon deutliche Parallelen. Auf Charakterebene vor allem bei
Mayuko, die wie eine Schwester von
Reki wirkt und einige Wesenzüge von
Rakka aufweist
(welche in Haibane Renmei ähnliche Fragen an ihre Existenz stellt und sich bei innerer Unsicherheit ebenfalls erstmal in ihr Schneckenhaus zurückzieht), aber auch bei einer ihrer Freundinnen, der Alien-begeisterten
Chiaki, die einiges mit Hikari aus »Haibane« gemeinsam hat, genauso begeisterungsfähig ist und oftmals sich ähnlich hibbelig und kopflos aufführt – und konsequenterweise von der gleichen Seiyuu gesprochen wird: Fumiko Orikasa.
(Randbemerkung: da passt es natürlich perfekt, daß auch NieA und Asuka die gleiche Seiyuu haben.)
NieA selbst verkörpert gewissermaßen die gleiche Leichtigkeit des Seins wie
Kuu; und daß die Außerirdische kein schlechter Mensch sein kann, kann man schon daran erkennen, daß sie sich, ebenfalls wie Kuu, gut mit
Katzen versteht (wobei Katzen ja auch irgendwie Aliens sind …).
Aber auch an gewissen Örtlichkeiten ist dieser enge Bezug festzumachen. Bei der Namensähnlichkeit des
Cafés in Haibane und dem
Lokal in NieA_7. Dieses Lokal "für westliche Gerichte"
(in dem die ganze Serie über kein westliches Gericht zu sehen ist, und das auch nie Gäste hat) beherbergt übrigens auch eine kleine Reverenz an Takahata (den Abe sehr geschätzt hat) in Form einer Wirtstochter namens
Chie, die
hier wie
dort den Laden schmeißt und überhaupt mit einer Menschenkenntnis und Umsicht gesegnet ist, die weit über ihrem Alter liegt.
Dieser Anime stellt ähnlich dem späteren Werk von Abe so einige Fragen an das Leben, an die Zukunft und an den Umgang miteinander – die aber nie beantwortet werden. So kommt es zu keiner Lösung der Frage, was aus der Badeanstalt wird, es gibt kein sichtbares Fortschreiten in den angedeuteten Liebesbeziehungen, keine Veränderung in NieAs grundlegendem Verhalten und keine Klärung, wie sich Mayuko nun ihr weiteres Leben nach der Uni vorstellt.
Logischerweise gibt es auch keine Antworten auf alle Alien-Fragen, insbesondere was es mit den Antennen auf sich hat, dem Raumschiff und dem Status der Außerirdischen. Der scheint nicht so überragend zu sein, denn die angeblich integrierten Aliens sieht man in eher suspekten, untergeordneten Beschäftigungsverhältnissen, viele abgesondert für sich im Krater lebend in eher prekären Verhältnissen. Wieso die antennenlose NieA
als einzige Stimmen vom Mutterschiff hören kann und wieso dieses sich am Ende in Lichtflocken auflöst,
bleibt im Dunkeln.
Und man kann getrost davon ausgehen, daß bei den Werken von Yoshitoshi Abe solche Fragen, die ungeklärt bleiben, für den Kern und das Verständnis der Geschichte keine Relevanz haben. Genau dies ist letztendlich auch der Grund dafür, daß dieser Anime
keine Handlung hat, zumindest keine vordergründige.
Fazit:
Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint. Leider geht die Comedy der ersten Hälfte mit dem Drama-Part der zweiten Hälfte nicht so besonders gut zusammen. Die Gags variieren zwischen saudämlich und komplett idiotisch, und die Charaktere müssen das wieder wettmachen. Was ihnen aber verdammt gut gelingt. Um was es dem Anime wirklich geht, offenbart sich in den letzten beiden Folgen, speziell aber zu Beginn von Episode 13. Wenn auch die Serie vom Aufbau her noch einige Schwächen hat, schaffen Artwork und Charakterdesign eine Atmosphäre, die den Zuschauer unmittelbar gefangen nimmt.
Ganz erstaunlich ist außerdem, wie man es auf natürliche Weise erreicht, wie nebenbei ein Informationshäppchen nach dem anderen einzuflechten. Praktisch ohne daß der Zuschauer das merkt. So nervig die Regie bei den Komikeinlagen auch ist, so genial ist das Skript in dieser Hinsicht.
Wer die Werke, an denen Yoshitoshi Abe beteiligt ist, schätzt und außerdem bereit ist, sich durch die schräge Comedy zu kämpfen, wird mit einer außergewöhnlichen Serie belohnt, die völlig unerwartet Stoff zum Nachdenken liefert.
Beitrag wurde zuletzt am 19.03.2024 23:24 geändert.
Kommentare
Die Geschichte von „NieA_7“ spielt in einer nahen Zukunft, in der Außerirdische bereits auf der Erde gelandet sind. Anstatt den Planeten zu übernehmen oder zu versuchen, eine intergalaktische Allianz zu schließen, sind sie damit beschäftigt, sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen. Überraschenderweise haben Menschen im Alltag damit keine Probleme.
Der Hauptcharakter ist Mayuko Chigasaki, eine sehr bissige, aber auch sehr fleißige Schülerin, die, da sie ständig pleite ist und im Obergeschoss eines öffentlichen Badehauses lebt, wo sie ebenfalls arbeitet. Zu ihrem Leidwesen hat sie eine außerirdische Mitbewohnerin namens NieA, die Raumschiffe aus Schrott baut und auf Mayukos Kosten lebt. Die dreiste und kindische Außerirdische gilt als eine „unter sieben“, das bedeutet, dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen Außerirdischen keine Antenne auf dem Kopf hat und in ihrer Kultur als eine Bürgerin dritter Klasse behandelt wird.
Die Chemie zwischen den beiden Hauptcharakteren ist stimmig: Mayuko ist die Stimme der Vernunft, die jeden Unsinn mit bissigem Humor kommentiert. NieA selbst ist manchmal ein bisschen nervig, aber selbst sie ist auf ihre Art mitfühlend. Der Humor in dieser Serie ist eine gute Mischung aus Slapstick und eher trockener Komik in gesunden Dosen. Bisweilen gibt es aber auch derbe Komik, wie zum Beispiel die Episode in die eine illegale Substanz einer heißen Quelle hinzugefügt wird.
Die Animation ist ähnlich, wie bei „Serial Experiments Lain“ in die Jahre gekommen, reicht jedoch für eine Komödie völlig aus. Es gibt einige skurrile Elemente wie menschenfressende Pflanzen oder seltsamen Slapstick-Humor. Auch sind einige der Themen, wie Armut, Diskriminierung, Kasten und andere Elemente, besser für ältere Zuschauer geeignet.